Das Recht über sich selbst

Kampf zugunsten der natürlichen Rechte sexueller Minderheiten

"Eine seltsame, aber vollwertige, unschädliche, unschuldige Spielart des Menschen existiert seit je unter allen Völkern und wird noch heute, als lebten wir im düstersten Mittelalter, von einem großen Teil der Völker, unter Vorantritt ihrer Gesetzgeber, Regierungen und Richter, sinnlos und grausam verfolgt; die Welt der Geister, der forschenden und wegeweisenden Persönlichkeiten aller Nationen, stehe auf gegen diese Barbarei und gebiete ihr im Namen der Menschlichkeit Einhalt!"

Mit diesen Worten umschrieb Kurt Hiller die Situation von Schwulen und Lesben zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Bereits in seiner erweiterten Dissertation von 1908 "Das Recht über sich selbst" leitete er aus natürlichen Rechtsprinzipien die Feststellung ab, daß gleichgeschlechtliche Liebe zu Unrecht strafrechtlich verfolgt werde (soweit sie nicht andere Gesetzesbestimmungen wie den Schutz Minderjähriger tangiere).

"Man verfemt sie, weil, wie man sagt, ihr Fühlen und Handeln 'widernatürlich' sei. Aber ihr Fühlen und Handeln wurzelt in ihrer Veranlagung, ist ein Bestandteil ihres Charakters, wird ihnen von ihrer Natur vorgeschrieben; und wenn die Geschichte aller primitiven und aller zivilisierten Völker uns das Vorhandensein solcher Minderheiten in allen Zeitaltern zeigt, so haben wir uns vor dieser Tatsache als einer eben natürlichen, wenn auch vielleicht erstaunlichen, zu beugen und haben zu versuchen, die Natur zu verstehen, nicht aber sie zu verleugnen und zu verleumden. Eine Naturerscheinung, die der Mehrheit unbegreiflich oder unbequem ist, hört deshalb nicht auf, eine Naturerscheinung zu sein."

Als Betroffener trat Hiller sein ganzes Leben lang für die Abschaffung des §175 des Strafgesetzbuches ein. Gegen Ende seines Lebens konnte er befriedigt zur Kenntnis nehmen, daß dieser Kampf erfolgreich gewesen ist, da der Bundestag Ende der 60er-Jahre diese überholten Strafbestimmungen weitgehend außer Kraft setzte.
Hiller war Mitarbeiter an Magnus Hirschfelds "Wissenschaftlich-humanitärem Komitee" gewesen, das in der Sexualforschung und -aufklärung Bedeutendes leistete; er war Mitglied in Helene Stöckers "Bund für Mutterschutz"; er war treibende Kraft bei der Abfassung eines "Gegen-Entwurfs" zu einem rückständigen Amtlichen Entwurf eines neuen Sexualstrafrechts in der Weimarer Republik; er schrieb in vielen Zeitschriften aufklärerische Abhandlungen zum Thema Homosexualität, gerade auch in politisch-literarischen Zeitschriften, in denen das Thema Sexualität nicht häufig thematisiert wurde. So gelang es Hiller, Politikern und Literaten das Thema Sexualstrafrecht näherzubringen; andererseits trug er philosophisch-politische Gedanken ins Bewußtsein der Schwulen und Lesben, um deren Argumentationen auf eine breitere, fundiertere Basis zu stellen.

"Es ist nicht wahr, daß die Homosexualität ein 'Verfalls'merkmal oder überhaupt etwas Krankhaftes sei. Menschen von blühender physischer Gesundheit, von unbezweifelbarer seelischer Intaktheit und von großer geistiger Kraft sind Träger dieser Veranlagung gewesen - gerade so, wie Schwache, Labile und Inferiore oft ihre Träger sind. Es gibt minderwertige, durchschnittswertige und überwertige Homosexuelle - genau, wie es minderwertige, durchschnittswertige und überwertige Heterosexuelle gibt. Nicht zur Regel, zur 'Norm', sondern zur Ausnahme, zur Minderheit, zur Spielart zu gehören, ist an sich weder ein degeneratives noch ein pathologisches Symptom. Auch rote Haare zu haben, ist weder dekadent noch krankhaft. Wenn es wahr ist, daß der Prozentsatz der seelisch Schwachen, Verschrobenen, Gleichgewichtslosen, der Hypersensitiven und Überreizten unter Homosexuellen größer ist als unter Personen mit der regulären Triebrichtung, so muß man nicht der Anlage, sondern der Lage dieser Menschen die Schuld geben: Wer ständig unter dem Druck von Anschauungen und Gesetzen lebt, die seine Eigenart zur Minderwertigkeit stempeln, muß von Natur ungewöhnlich robust sein, um in jeder Hinsicht vollwertig zu bleiben. Wird man von den Homosexuellen den furchtbaren Druck der Verachtung und Verfolgung, der auf ihnen lastet, nehmen, so wird das Neuropathische an ihnen in demselben Grade schwinden, in dem die schöpferischen Werte ihres Wesens zur Geltung gelangen werden."

Hiller hat seine Homosexualität nicht bloß bedacht, sondern auch gelebt. Einen eigenen Memoiren-Band widmete er seinem Liebesleben, um offen und ehrlich zu schildern, was anderen Menschen "Bezirk in dunkler Nacht" ist.
Um seiner Zuneigung, seiner Verehrung, seinen Sehnsüchten Ausdruck zu verleihen, schrieb er homoerotische Gedichte, die er bisweilen als wichtiger empfand als seine politische Prosa. In der Schweizer Schwulen-Zeitschrift "Der Kreis/Le Cercle" und in eigenen Büchern publizierte er viele Jahre lang solche Gedichte.

Geradheit

Zwar eint uns im Gespensterland der Ismen
Manch Nein, manch Ja, manch Gleichstrom des Komplexen,
Doch funkeln uns der tiefern Eintracht Prismen
Im Reiche des Konkaven und Konvexen.

So spüren Glück wir, wenn wir rank uns recken
Und, forsch, von vorne fort die Schultern drücken;
Es freut sich in uns das gestraffte Strecken,
Domweite Brust und ausgekehlter Rücken.

Doch weil wir Geraden für das Gerade flammen,
Dem Krummen feind, dem Schiefen, der Erschleichnis,
So schlagen feurig Leib und Geist zusammen
Und, was wir leibhaft lieben, wird zum Gleichnis.

"Je ferner mir leibliche Berührung des Jünglings, den ich liebte, lag, desto wilder brodelte in mir ein an keine bestimmte Person geknüpftes animalisches Begehren. Nicht, daß ich mit Bedacht mich zwang, beides auseinanderzuhalten; nein, ein Etwas oberhalb meiner Willensvorgänge zwang mich ohne mein Zutun dazu und fast außerhalb meiner Beobachtung und Selbsterkenntnis. Ich erlegte mir kein Gesetz auf, sondern ich gehorchte einem Gesetz in mir ohne das Gefühl eines Gehorchens. Als ich begonnen hatte, zu ahnen, was mit mir los sei, erfuhr ich (durch wen oder was, habe ich vergessen), daß gewisse Stellen im Tiergarten an seinem Rande sich nachts als zwar stockdunkel, aber bevölkert erweisen, bevölkert von Menschen, unter denen mit einiger Vorsicht mal Ausschau zu halten (doch Ausschau ging wegen der Dunkelheit kaum!) mir reizvoll schien. Eines Tages im Oktober unternahm ichs. Im Tiergartenstück zwischen Lennéstraße und Brandenburger Tor. Da teils vom Nachthimmel teils von den Laternen der angrenzenden beiden Straßen her ein paar Lichtstrahlen ins Düster der Büsche gelangten, vermochte man die Umrisse und Antlitze der dort Wandelnden oder auf Bänken Wartenden halbwegs zu erkennen. Auf einer Bank setzte ich mich neben einen Mann, der, ein bis zwei Jahrfünfte älter als ich, schnittig und drahtig wirkte und in dessen Gesicht kein Zug mich abstieß. Ein Gespräch entwickelte sich; ich fragte ihn vor allem, ob er Muskeln hätte. Statt zu antworten, hielt er mir seinen Oberarm hin. Ich prüfte; der Bizeps war geräumig, gewölbt und wie aus Stahl. Wohin nun? Er bot seine Wohnung an. Weiß nicht mehr, wo sie lag. Sie war sehr klein und sehr sauber. Als er sich entkleidete, kam ein toll trainierter Körper zum Vorschein, bedeckt mit Tätowierungen. Die mochte ich nicht, doch die Skulptur seines Rumpfs und seiner Gliedmaßen erzeugte in mir unerhört viel mehr Lust als die Tätowierung Unlust. Wechselseitige Masturbation stand weder damals noch später je auf meinem Programm. So wenig wie Analsachen, Oralsachen. Wir legten uns ins Bett und umarmten einander; und kaum hatte ich meinen zu weichen Körper an seinen prachtvoll harten gepreßt, als 'es geschehen war'. Ob oder wann bei ihm, entglitt meinem Gedächtnis. Als wir uns wieder angezogen hatten, verlangte er höflich einen geringen Preis. Ich zahlte ihn, und wir sahen uns niemals wieder. Ich empfand hinterher keine 'tristitia', eher ein Gefühl der Ruhe, der Erleichterung, der verminderten Schwierigkeit des Einstiegs in Lektüre, Diskussionen, Studium, Denkarbeit, Lebensarbeit."

Eine grundlegende Erforschung des Hillerschen Schaffens auf den Gebieten Sexualität, Eros, Sexualpolitik steht noch aus.
Erwähnenswerte Schriften zu diesem Thema sind:

Günter Helmes: Per scientiam ad justitiam. Kurt Hiller und der Kampf um die Abschaffung des §175 im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Erkundungen. Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. Helmut Kreuzer zum sechzigsten Geburtstag. Hrsg.v. Jens Malte Fischer, Karl Prümm und Helmut Scheuer. Göttingen 1987, S.154-181.

Hans-Günter Klein: Kurt Hiller, das Hamburger WHK und die Petition von 1962. In: Hamburg von hinten, Jg.2 (1984/85), S.25-33.

Hans-Günter Klein: Kurt Hiller und die "Schmach" des 20.Jahrhunderts. Anmerkungen zu zwei Briefen an Erich Ritter 1948. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr.31/32, Dezember 1999/März 2000, S.40-46.

Manfred Herzer: Hirschfelds Utopie, Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Romantik. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr.28, Dezember 1998, S.45-56.

Seit 1998 gibt es eine Neugründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees

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