274
Es gibt Menschen, denen in gleicher Art der Sinn für Qualität abgeht, wie
andre blind oder taubstumm sind. Nur ist die erste Sorte ungleich zahlreicher - so
daß sie nicht als pathologisch rechnet.
275
Wir verehren das Große, unabhängig von unsrer Entscheidung über die
Frage der Willensfreiheit. Wir verdammen den Schuft, obwohl er "nichts dafür
kann", daß er einer ist; und durch analoge Erkenntnis wird unsre Freude
am adligen Charakter nicht beeinträchtigt. Begeisterung will einen Adressaten
- schon weil sie Dankbarkeit enthält. Sie wählt dazu, da der Weltenlenker
verborgen bleibt, den Menschen, der sie hervorgerufen hat.
276
Der Große zeichnet sich dadurch aus, daß er Ehrfurcht vor dem Größeren
empfindet und bekennt. Diese Haltung ist geradezu ein Kriterium der Größe.
Kontrast: die typischeArt, wie der Philosophieprofessor den Philosophen behandelt,
der Journalist den Schriftsteller, der Funktionär den Führer. (Die unparadigmatischen,
weil untypischen, also die Ausnahmefälle zeigen, daß selbst Philosophieprofessoren,
Journalisten, Funktionäre durch Größe ausgezeichnet sein können.
Paradigmatisch bleiben indes die typischen Fälle. Typologie ist nötig und
... sie ist möglich. Ihre Möglichkeit scheitert nicht am Unpräzisen,
Inexakten, Varianten, Wogenden ihres Gegenstands, welcher immer eher Regeln darbietet
als Gesetze.)
277
Es gibt Ehrfurchtslosigkeit aus Trotz und Ehrfurchtslosigkeit aus Dummheit (richtiger:
aus Flachheit) - so wie es Ehrfurcht aus Erlebnis gibt und Ehrfurcht aus Konvention
(abermals: aus Flachheit). Die Ehrfurchtslosigkeit aus Trotz kann erträglich,
kann amüsant, ja kann produktiv und ... ehrfurchtgebietend sein (das Genie beginnt
fast immer mit Ehrfurchtslosigkeit); die Ehrfurchtslosigkeit aus Flachheit ist ohne
Ausnahme unerträglich. Genau so unerträglich ist die Ehrfurcht aus Konvention;
bloß, sie ist obendrein lächerlich. Ehrwürdig und schön und die
allein echte ist die Ehrfurcht aus Erlebnis. Nur der Mensch von Rang ist ihrer fähig
- vielmehr erkennt man, daß ein Mensch Rang hat, eben an seiner Fähigkeit
zu ihr. Er wird sie naiv, vom Blut her, aus innerm Muß betätigen, nicht
aus Selbstzwang, Pflichtgefühl, einem "Soll". Der differenzierte Mensch
von Rang genau so wie der (im Wissenssinn) ungebildete Mensch von Rang. Männer
sind selten, Frauen noch seltener der echten Ehrfurcht fähig; was bei Frauen so
häufig so aussieht, ist in der Regel nicht Ehrfurcht (eine geistige Angelegenheit),
sondern erotische Hingabe mit dumpfem Hörigkeitswunsch, wobei das Geistige an
dem verehrten Manne die Rolle eines "sekundären Sexualmerkmals" spielt.
278
Ehrfurcht und Demut - das Entgegengesetzteste setzen die Meisten gleich. Während
die Forderung der Ehrfurcht aristokratischer Wertlehre entstammt, welche Größe
kennt, ist die Aufforderung zur Demut (sie ergeht an Alle, doch besonders an Überlegene)
ochlokratisch, ein Mittel der Mittelmäßigen, sich an der Macht zu halten.
Man kann die der geistigen Aktion gefährlichste aller modernen Ethiken, die von
der "Individualpsychologie" A. Adler's vorgetragene, auf die Formel bringen:
sie verwirft Ehrfurcht, sie verlangt Demut.
279
Freud zu Adler wie Adler zu Käuzchen.
280
Nirgends scheint mir die wechselseitige Ehrfurcht der Geistseele vor dem leiblichen
und der Leibseele vor dem geistigen Adel ergreifender geformt als in jener antiken
Legende: Pindar starb im Theater von Argos, das Haupt auf die Schulter eines jungen
Athleten gelehnt, den er besungen hatte.
281
Ein Turner, als solcher, ist kein Philosoph. Ich bin für Philosophie. Bin ich
darum gegen Turnen? Widerwärtig wäre nur die Wendung: "Wahre Philosophie
ist, ... zu turnen." (Oder "zu tanzen"; oder "in den Wald zu gehn";
oder "zum Volke".)
282
Kungfutse sagt: "Unter wirklich Gebildeten gibt es keine Rassenunterschiede."
Der Hakenkreuzler sagt: Unter wirklich Rassebewußten gibt es keine Bildungsunterschiede.
- Man muß den Hakenkreuzler ablehnen, denn ihm ist das Geistige unerheblich;
man müßte auch das Wort des großen Chinesen ablehnen, wäre sein
Sinn, das Rassische für unerheblich zu erklären. Rasse und ihr Unterscheidendes
ist freilich nicht zu bewerten, aber: zu genießen.
283
Es gibt nur eine einzige Gruppe Menschen, bei der man soviele Schurken antrifft wie
bei den Juden; das sind die Nichtjuden.
284
Die meisten Juden taugen nichts und gleichen darin den meisten Christen.
285
Nationalität ist keine Angelegenheit der Zoologie. Über die Nationalität
eines Menschen entscheidet sein seelisch-geistiges Präsens und nicht sein biologisch-ethnisches
Präteritum.
286
Güte ist nicht nur eine Forderung, sondern sie ist eine Realität, die im
Weltall bereits vorkommt. Ich fand Güte, chemisch rein, in dem rührenden
Freudengespringe, Freudengeheul und Freudenblick eines Hundes, der mich in der Wohnung
seines Herrn nach einem halben Jahre wiedersah (wiedererkannt hatte er mich nach einer
halben Sekunde). Daß der Hund eine Seele hat, ist für den, der erlebte,
was ich da erlebte, nur dann möglich zu leugnen, wenn er zugleich leugnen wollte,
daß der Mensch eine Seele hat. Und eher noch hat der Mensch keine als dieser
Hund, dessen Wiedersehensentzücken ein Affekt von so prächtiger Ungebrochenheit
war, wie sie bei den Affekten der Menschen, wenigstens der "zivilisierten",
kaum noch vorkommt.
287
Ein König von Gottes Gnaden verlor seine Krone. Er hatte nun zwischen zwei Erkenntnissen
zu wählen: der, daß die Krone kein Geschenk der göttlichen Gnade gewesen
war, und der andern, daß ihm Gott seine Gnade entzogen hatte. Gegen beide Diagnosen
bäumte sein Stolz sich auf. So entschloß er sich zu einer dritten: daß
der Verlust der Krone nur eine Prüfung sei, die Gott an ihm vornehme; eine Prüfung
von kurzer Dauer. Mit dieser Klappe waren zwei Fliegen geschlagen: der Stolz geschont
und die Hoffnung genährt.
288
Der Schöpfer der "positivistischen" Philosophie, Auguste Comte, so erzählt
in seinem Kapitel 'Die Unentbehrlichkeit des asketischen Ideals' der klerikale Moralist
F. W. Foerster, sei "der erste moderne Denker" gewesen, "der die Askese
wieder in ihr Recht einsetzte, und zwar im Namen der sozialen Erziehung. Er pflegte
stets nach dem Mittagessen statt des Desserts ein Stück trockenes Brot zu essen,
um dabei an diejenigen zu denken, die nicht einmal das haben". - Wahrscheinlich,
falls die Geschichte überhaupt stimmt, litt Comte an überschüssiger
Magensäure.
289
Unter den Methoden des Intellekts, sich der Sexualität zu nähern, gibt es
zwei schmutzige: die Zote und die Muckerei.
290
Die Freude an der Blume, am schönen Tier, an Frucht und Trank und hundert Leckerbissen,
an bunten Steinen und am Menschenleib - sie ist zwar nicht des Geistes, aber noch viel
weniger ist sie wider den Geist. Das Postulat der Askese ist grundlos. Völlig
ohne individuelle, private Vorwegnahme des Paradieses müßten wir ersticken:
in Nur-Pflichten-Luft, im Armeleutgeruch der graugelben spitzäugigen Sozialmucker,
in paulinischem Mief.
291
Das Ja zur Schönheit wird unverantwortlich, verwerflich, "Ästhetizismus"
nur dann, wenn ihm ein Nein zur ethischen Aufgabe beigeordnet ist, zu der Aufgabe,
Allen alles aus der Welt zu räumen, was für das Erblühen der Schönheit,
ihr Sichauswirken und für den Genuß der Schönheit ein Hindernis bildet.
Übrigens kommt der Verneinung dieser Aufgabe ihre Bagatellisierung gleich, wie
wir sie von metaphyselnden Kunstkneipern kennen, die uns "Weltverbesserer"
lächelnd ihres Wohlwollens versichern. Ohne es zu ahnen, sind sie die Fünfte
Kolonne der Muckermacht.
292
Definition des Aktivismus (des humanistischen; es gibt auch einen bestialischen, aber
der zählt nicht): -daß es zuerst darauf ankommt, die Hölle zu löschen;
dann erst, sie zu malen.
293
Paradiesisches im Heute ist nicht zu verachten, auch nicht vom Standpunkt des Aktivisten
aus. Zu verwerfen ist nur der Anspruch des Genießers, geisthaft zu sein, indem
er Früchte nascht. (Ich erinnere an das drollig-prätentiöse Ge-ethele
gewisser Schreiber über den Tanz - welcher doch, selbst in seinen verfeinertsten
Formen, ein Erotikon bleibt und nicht "wahre Philosophie" ist, "eigentliche
Religion", "tiefste, weil chthonische Kunst", gar "höchste
Form von Politik"!) Bei aller Komik gewisser Kosmik bleibt die Vermanschung von
Substanz aus der Erossphäre mit Substanz aus der Logossphäre das unappetitlichste
der Geschäfte, und mitnichten ist eine Sinnlichkeit, die sich als Geistigkeit
aufspielt, sympathischer als jene Krüppelgeistigkeit, die gegen die Sinnlichkeit
Amok läuft.
294
Ich weiß, daß der Geist nie an seinem Ziele ist. Aber wäre ers eines
Tages, so würde er plötzlich aufgabenlos und müßte absterben.
Er hätte allen seinen Sinn und Wert verloren. Die Schönheit besäße
den ihren immer noch. Die Schönheit hat kein Ziel - sie ist eines. Ihr Wert kann
nicht untergehn.
295
Sage mir, mit welchem Blick er die gefällte Edeltanne ansah, und ich will dir
sagen, wer er ist.
296
Es gibt wortgütige und tatgütige Menschen. Die wortgütigen sind im Handeln
meist kalt und ichsüchtig, die tatgütigen sind oft linkisch-schweigsam oder
stachlig. Menschen der Güte in Wort und Tat sind so selten, daß wir sie
Engel nennen dürfen.
297
Ich habe gefunden, daß Dem, der vom sogenannten Laster der Rachsucht frei ist,
auch die unumstrittene Tugend der Dankbarkeit zu fehlen pflegt. Kein Wunder! Sind doch
beides nur zwei Seiten einesunddesselben Hanges zur individuellen Durchsetzung der
Gerechtigkeit, zum persönlichen Mithelfen an der Verwirklichung des Ideals, daß
im Bereich des sittlichen Geschehens kein Ereignis ohne Folgen bleibe.
298
Rache ordentlich und wirksam zu üben, ist unbequem - mindestens so unbequem wie
Dank. Mangel an Rachsucht beweist also einen peinlichen Überschuß an Bequemlichkeit.
299
Unter jenen Krüppeln der Seele, denen der Wille zur Rache und zum Danke fehlt,
sind Frömmler, die, zur Rede gestellt, "Gründe" vorzeigen, etwa
den: daß keine Groß- noch Guttat je von Menschen getan werde, sondern von
Gott durch Menschen, und die Übeltat gleichfalls nicht vom Menschen, sondern von
einem Dämon durch den Menschen, welcher demnach in beiden Fällen nur Werkzeug
höherer Mächte sei. Alle Menschen seien das ständig, in allen Fällen;
mithin habe man nicht Menschen zu danken, sondern Gott zu danken, und nicht an Menschen
Rache zu üben, sondern "die Dämonen zu bekämpfen" - "besonders
die in der eigenen Brust", pflegt der Krüppel hinzuzufügen. Nun, wenn
dem so ist, im Guten wie im Bösen, dann sollten schnellstens Orden und Ehrenzeichen,
Denkmäler und Gedenkfeiern für Große beseitigt werden und, am andern
Ende, das Strafrecht - schleunigst, schleunigst! Von solchen Abschaffungen wollen die
Krüppel der Seele natürlich nichts wissen; denn sie sind, wie alle Nicht-Temperamente,
konservativ und, wie alle Konservativen, inkonsequent.
300
Verwachsene, wenn sie ein bißchen intellektuell sind, haben oft einen Blick,
als sei Geradheit flach. Intellektuelle, wenn sie geistig ein bißchen verwachsen
sind, haben diesen Blick immer.
301
"Fünf gerade sein lassen", das geht zur Not an und mag bisweilen sogar
ein Verdienst sein. Eine Nichtswürdigkeit ist das viel Häufigere: die Vier
als ungerade zu verleumden!
302
Unter einem ganz schlicht menschlichen Gesichtswinkel, nämlich dem der Anständigkeit,
gibt es drei charakterielle Typen:
Den von Geblüt Anständigen;
den nur aus Anstand Anständigen;
den ehrlich Unanständigen.
Der zweite Typ, so nützlich er bisweilen sein kann, ist nicht nur widerlicher,
sondern auch gefährlicher als der dritte! Denn er ist schwerer durchschaubar und
sein Verhalten ohne System.
303
Aus zu großer Nähe werden Freunde gegeneinander manchmal wertblind.
304
Die kältesten Länder haben die besten Öfen. In Italien friert man winters
- in Skandinavien nicht. So haben wohl auch die in ihrem Durchschnitt geistfernsten
Völker die größten Philosophen. Und sollte am Ende die unvergänglich
kanonische Pracht der antiken griechischen Plastik der Beweis sein, daß die Hellenen
das häßlichste Volk des Altertums waren?
305
Auch Pegasus braucht eine Stute. Er nahm sich eine. Die Stute sah in ihm nur den Hengst.
Und als Europa durch Zeus geehrt wurde, hielt diese Kuh ihn für einen Stier.
306
Antifeminismus ist unverzeihlich. Aber vergegenwärtige ich mir, daß unter
100 Fällen, wo ich von Personen mit großer Tasche (getragener) ohne böse
Absicht, nur egozentrisch-achtlos gerempelt worden bin, höchstens 2 Fälle
von Aktentasche und mindestens 98 von Damenhandtasche waren, dann begreife ich ihn.
307
Logik. - Das Telephon. Ich melde mich: "Hallo!" Eine runde, reifere Frauenstimme:
"Otto?" Ich (anders heißend): "Wen wollen Sie denn sprechen?"
Sie: "Ist dort nicht 544?" Ich: "Nein, 1144." Sie (spitz, klaftig,
in vorwurfsvollem Ton): "Fffünf, habe ich gebeten!" Aus.
308
Von einem bestimmten Augenblick ihres Lebens an verfallen unsre Freunde (nicht alle!)
auf die bizarre Manier, uns nur noch verdoppelt vor die Augen zu treten, nämlich
vermehrt um eine Ehehälfte, - als ob wir unsre Sympathie für sie mit Selbstverständlichkeit,
mir nichts dir nichts, auf ein Menschenexemplar Numero Zwei übertragen könnten,
alle Heimlichkeiten der Seele und Schamhaftigkeiten des Geistes statt mit dem einen
Vertrauten auf einmal mit zweien zu teilen vermöchten, davon der eine kein Vertrauter,
sondern ein Fremder und obendrein eine Fremde ist; welch eine Naivität, fast Dummheit
(klügster Menschen!), ja Frechheit (feinster!), welch eine Paralyse des Feingefühls!
Wenn nun mein Freund mit seinem Großvater angetanzt käme; der ein Ehrenmann
sein mag. Aber mit seiner Geliebten, die schließlich nicht meine ist, so wenig
wie sein Großvater meiner ist, oder mit seinem Ehegespons - das soll auf das
Zarteste der Freundschaft weniger tödlich wirken? "Der Freund sei euch das
Fest der Erde", steht bei Nietzsche. Er meinte damit kein Familienfest. Gerade,
wenn man die Frauen als Menschen, als Menschen "andrer Art doch gleichen Wertes",
ehrt, der einzelnen also grundsätzlich zuspricht, was man dem einzelnen Manne
grundsätzlich zuspricht: Persönlichkeit (im Stile des kritischen Idealismus:
Würde), sie mithin als Besseres denn als bloße Funktion ihres Mannes deutet
und als sein Zubehör - gerade dann ist die Gepflogenheit, wider die ich mich hier
wende, einfach beleidigend für die Frau. Hat sie Ehrgefühl, dann sollte sie
nicht zulassen, daß ihr Mann sie in ein Vertrauen schleppt, das gar nicht ihr
gilt noch gelten kann, sondern ausschließlich ihm. Es zerbräche, weit entfernt,
sich zu verdoppeln. Ganz ginge das Gewachsene nicht verloren? Der Rest ist flache Bürgerei!
309
Mutter ist ein erhabenstes Phänomen, und außer dem Heuchler wirft nur der
Narr Steine auf die Hetäre; aber beide passen als Argument nicht in die Rede des
Verteidigers, sitzt auf der Anklagebank die Dame - die Dame mit gemalten Brauen, beschmierten
Lippen, gefärbten Nägeln.
310
Theodor Storm, wie sicher viele bürgerliche Standbilder, taugt mehr als seine
Adoranten. Er ist herzlicher, harmloser, feiner, tiefer, besser. Immerhin weiß
ich, woher meine Abneigung stammt, wenn ich in seiner frühesten Novelle 'Marthe
und ihre Uhr' (1847) lese: "An Blumen hatte sie eine große Freude, und es
schien mir ein Zeichen ihres anspruchslosen und resignierten Sinnes, daß sie
unter ihnen die weißen und von diesen wieder die einfachen am liebsten hatte."
Das sagt Storm nicht etwa, um beim Leser Antipathie gegen das Mädchen zu wecken;
er sagt es preisend. Zumindest sagt ers aus Widerwillen gegen den Gegentyp, welcher
nicht "anspruchslos" und nicht "resigniert" dahinlebt, sondern
sich in den Augen eines moderativen Muckers als prätentiös und draufgängerisch,
vielleicht gar als rebellisch spiegelt und jedenfalls just die weißen und einfachen
Blumen, die Gänseblümchen, keineswegs liebt. Ich für mein Teil habe
nicht nur für den Simplismus im Erkennen, sondern auch für den im Empfinden
wenig übrig und liebe die farbigen und komplizierten Blumen, die seltenen und
seltsamen, die kostbaren und unheimlichen ... bis zur Orchidee. Bis zur Orchidee, samt
allen etwa aufschimmernden meta-botanischen Hintergründen.
311
Der Philister pflegt das, was seiner eigenen Natur widerspricht, beim Nebenmenschen
als unnatürlich zu bezeichnen - auch dann, wenn es dessen Natur völlig gemäß
ist. "Natürlich", "unnatürlich": falls diese Wörter
einen Sinn haben sollen, dann kann es nicht der sein, auszudrücken, was Herrn
Meyer natürlich und unnatürlich erscheint. Ihr Begriff ist nur sinnvoll,
wenn er sich relativ nimmt; wenn er anzeigt, was der Natur eines bestimmten Menschen
oder eines bestimmten Typus Mensch entspricht und widerspricht. Die Relativität
des "Natürlichen" offenbart sich an wenig Stellen der Litteratur so
ergreifend, das heißt die Einen ergreifend, die Andern herausfordernd, wie in
jenem leicht gereizten Brief Oscar Wilde's an Robert Roß, 1896, aus dem Zuchthaus:
"Wenn ich mein zukünftiges Leben damit verbringe, Baudelaire in einem Café
zu lesen, so werde ich ein natürlicheres Leben führen, als wenn ich die Arbeit
eines Heckenausbesserers verrichte oder in schlammigem Moor Kakao pflanze."
312
Den Menschen der "Jugendbewegung" (und der Nachfolgekreise) imponiert nur
bärtiger Ernst. Wenn ihr für Tänze und Fröhlichkeit seid, Änne
und Heiner, warum seid ihr dann nicht auch für einen Geist, der tanzt, warum dann
nicht auch für 'fröhliche Wissenschaft'?
313
Die "Jugendbewegung" war ein Irrtum: weil sie den Geburtsschein wichtig nahm.
Kampf der Generationen gegeneinander ... das ist eine abgeklungene Musik; Kampf der
Zielgleichen quer durch alle Generationen, miteinander für das gemeinsame Ziel,
gegen den gemeinsamen Zielgegner quer durch alle Generationen - das ist das geschichtlich
Neue (und Uralte!).
314
Jugendlichkeit ist nicht das Monopol des Jünglings und Reife keine unausbleibliche
Tugend des Mannes. Neue Formen von Bündnissen kristallisieren sich heraus: intergenerationelle,
bei denen die wechselseitigen Überlegenheiten für das Bündnisziel fruchtbar
gemacht werden; jede Tugend, jede Begabung und jede Generation ist jeder andern zugleich
unter- und überlegen.
315
Innerhalb der neudeutschen Jugend fallen zwei Typen auf: die tierisch Ernsten, die
ihren Mangel an Witz als tiefere Bedeutung ausgeben (diese Gattung gab es immer), und
die seicht Frechen, die ihre durchaus ungedeckte und fade Frivolität spazierenführen,
als sei sie ein Beweis rebellischer Unabhängigkeit, ein Merkmal philosophischer
Skepsis, ein Kennzeichen großartiger Überlegenheit des Genies (diese Gattung
ist neu). Mag in der Humorlosigkeit der Ersten Wohlwollen den Ausdruck innerer Bescheidenheit
sehen, so bleibt der Unernst der Zweiten bestenfalls als Ignoranz zu deuten, als -
halb oder gar nicht verschuldete - Unwissenheit, die, statt sich durch Lernen langsam
aufzuheben, faul und billig grient.
316
Die Skepsis der Jünglinge beruht in der Hauptsache auf zu wenig Kenntnissen, die
Skepsis der Greise auf zuviel Erfahrung.
317
Verschiedene Konjunktive. - Du begegnetest da neulich, verehrter Freund, einem jungen
Niemand und behandeltest ihn menschenhaft; er aber! Während du tatest, als sei
kein Abstand zwischen euch vorhanden, benahm er sich, als wäre keiner da.
318
Gesellschaften. - Je besser das Essen, desto schlechter die Konversation. Pute ist
wunderbar; aber nur die aufgeschnittene, nicht auch die ausgeschnittene. Am wenigsten
dann, wenn sie ältlich ist und gackernd Aphorismen über Thomas Mann legt.
Auch Zunge ist fein; aber sie darf nicht von Rilke lispeln.
319
Jede zusammengewürfelte Gesellschaft sinkt nach kurzer Zeit auf das Niveau ihres
niedersten Mitglieds. Ursache: dessen Unverschämtheit und die Schamhaftigkeit
der höheren. Gegen das Gekreisch der Affen im Urwald kommt der Leopard nicht auf;
und es wäre auch gegen seinen Stolz, es zu überbrüllen.
320
Es geht nicht, daß die Pfütze Klage führt über den schlechten
Zustand der Landstraße.
321
Er ist eine Qualle. Dann zieh ich mir schon Krebse vor! Die gehn zwar rückwärts,
aber man kann sie packen.
322
Mit dem Grandseigneur kann der Arme, der Geistige reden; mit dem mächtigen Spießbürger
nicht.
323
Der von Natur glückliche Mensch kann nie so glücklich sein, wie es in seltnen,
gesegneten Minuten der von Natur unglückliche ist; dafür kann jener in seiner
verruchtesten Stunde unglücklicher sein als der unglückliche durchgehends.
324
Aus tausend Rosenblättern gewinnt man einen Tropfen Rosenöl; ein Aphorisma
Geist kostet einen Roman Leid.
325
Täglich ereignet sichs, daß Millionen Selbstmorde, die das zu Erwartende
und Natürlichste wären, nicht geschehen. Wie erklärt sich das? Aus der
Angst vor dem Totsein? Keineswegs. Sondern aus der Angst vor dem Sterben. Das Grauenvolle
ist der Übergang, nicht der Untergang. Noch genauer: das Untergehen, nicht das
Untergegangensein.
326
Geist ist der Sohn des Elends und der Kraft.
327
Ist der Mann, mit dem du zu tun hast, ein Schuft und du merkst es nicht, dann bist
du übel dran, aber noch viel übler, wenn du ihn merken läßt, daß
du's gemerkt hast.
328
Die einzige Möglichkeit, mit einem gemeinen Menschen fertig zu werden, ist: sich
von ihm für einen ahnungslosen Engel halten zu lassen.
329
Zum Thema des Märtyrers ist in neuerer Zeit nicht genug gedacht, nicht genug geschrieben
worden. Ich habe ein starkes Mißtrauen gegen die Glorifizierung von Märtyrern;
sie ist oft die andere, die sichtbare Seite einer heimlichen Genugtuung Minderer über
das Mißgeschick der Hervorragenden. Hinzukommt, daß für die Güte
einer Sache keineswegs die Qual spricht, die um ihretwillen ihr Verfechter auf sich
genommen hat; man kann für eine objektiv schlechte Sache leiden, und eine objektiv
gute wird nicht durch den Umstand schlechter, daß einer für sie nicht gelitten
hat. Die Richtigkeit der metaphysischen und moralischen Inhalte des Christentums wird
nicht etwa durch Jesu Kreuzestod bewiesen und der Inhalt des Buddhismus nicht dadurch
widerlegt, daß Gautama ohne Kreuz, ohne Giftbecher, ohne Verfolgungen und Kerker
friedvoll-natürlich gestorben ist. Ich glaube, daß Oscar Wilde ein großer
Künstler war; aber er war es nicht deshalb, weil er, empörenderweise, ohne
echte Schuld mehrere Jahre im Zuchthaus schmachtete; und Stefan George ist bestimmt
nicht deshalb gering, weil ihm dies Schicksal erspart blieb. Wollen wir uns ein Urteil
über Bedeutung und Format eines Königs, der ermordet wurde, eines Staatsmanns,
der ermordet wurde, eines Revolutionärs, der ermordet wurde, bilden, so müssen
wir eines ganz außer Betracht lassen: das Faktum Mord. Idealisierung des Mannes
nur wegen der Tragik seines Lebensausgangs wäre lachhaft sentimental und ekelhaft
unsachlich. Ob ein Künstler, ein Denker, ein Politiker groß, ob er gering
ist, das entscheidet sich nach seinen Werken, seinem Weltbild, seinem Stil, seinen
Lehrmeinungen, seinen Tendenzen, seinem Wollen und Können, seinen Taten - immer
nach der Leistung, nie nach dem Schicksal. So wenig der Erfolg ein Maßstab des
Wertes ist, so wenig ist es der Mißerfolg, selbst nicht der monumentale, tragische,
tödliche. (Februar 1935.)
330
Dogmatiker untereinander, so entgegengesetzt ihre Dogmen sein mögen, tolerieren
sich eher als jeder von ihnen den Skeptiker.
331
Eine ungeheuerliche Anmaßung, von Gott zu behaupten, er sei. Gesetzt, er wäre
-: woher wüßte der Mensch es? Aber eine klägliche Dummheit, von Gott
zu behaupten, er sei nicht. Solche Behauptung enthielte die Versicherung: "Ich
kenne den Ursprung, begreife den Sinn, weiß um das Ende der Welt", und diese
Versicherung ist lächerlich.
332
Theologie heißt die Wissenschaft von einem Gegenstand, über den sie nichts
weiß.
333
Je älter man wird, desto dümmer kommt man sich vor, nicht zwar im Punkte
der Lebenserfahrung, umsomehr aber in dem der Welterkenntnis. "Weltgefühl"
- es sprießt so oft wie in der Jugend, vielleicht sogar öfter noch, aber
stets ist es (und das war in der Jugend anders) das Gefühl von der absoluten Undurchdringlichkeit
des Dunkels allen Daseins.
334
Der bedeutendste Staatsmann unserer Epoche: Jawaharlal Nehru, schreibt in seinem Buche
'Die Entdeckung Indiens' (englisch 1946): "Ich bin an dieser Welt interessiert,
an diesem Leben, nicht an irgendeiner andern Welt oder einem künftigen Leben."
Unter Deutschen sprachen denselben Gedanken auf andere Art, doch ebenso direkt Heine
und Nietzsche aus. Theologen-Unbescheidenheit, die vom Weltgeheimnis etwas zu wissen
behauptet, sollte an Kundgebungen derart genialer Demut vor dem Rätsel zumindest
nicht feige-schweigend noch entrüstungs-aufgeblasen oder gar mit geheucheltem
Spott vorübergehn.
335
An den Ketzerverbrennungen ärgert mich weniger, daß, als wer verbrannt wurde.
336
Ich hasse die Ratte tiefer als den Tiger, die Wanze heftiger als den Haifisch, den
frommen oder liberalen Hitlerermächtiger von 1933 heißer als den Massenmörder
A. H.
337
Von einem skeptischen Standpunkt oberhalb der Moralen aus, der sich freilich Konsequenz
zur Norm setzt, sind alternativ nur zwei Verhaltensweisen sinnvoll: Geld machen oder
Geist tun. Der Spießbürger vermag weder dies noch jenes. Rockefeller und
Goethe sind einander verwandter (trotz des Abgrunds zwischen ihnen) als jeder von beiden
Herrn Piefke. Wer aber Goethe für einen Bourgeois hält und mir daher aus
falschem Grunde hier rechtgibt, den bitte ich "Goethe" in dem Satz durch
Buddha oder Johannes den Täufer zu ersetzen, durch Savonarola oder Karl Liebknecht,
damit ich in die erwünschte Lage komme, den Zorn solchen Lesers zu erregen. Ich
schreibe meine Bücher ohnehin nicht für die Leser, sondern gegen sie (ein
paar Ausnahmen zugestanden).
338
Ein Philosoph - was ist das? Die Aufgabe, den Philosophen zu definieren, ist schwer;
meist von Nichtphilosophen gestellt, setzt ihre Lösung einen Philosophen voraus.
Gerade er aber weiß, daß der Begriff der Philosophie, seit Sokrates ihn
schuf, umstritten ist und ihn zu bestimmen eines ihrer eminentesten und heikelsten
Probleme bildet.
339
Echte Probleme sind unlösbar. Wer das nicht begreift, ist kein Philosoph. Wer
sich dabei beruhigt, ist erst recht keiner.
340
Die Wissenschaften, voneinander durch ihren Gegenstand unterschieden, unterscheiden
sich insgesamt unterschiedslos von der Philosophie durch die Lebensdauer ihrer Fragen.
Die Fragen der Wissenschaft leben, bis sie beantwortet sind; die Fragen der Philosophie
leben ewig.
341
Die Wissenschaften sind Gehilfinnen, ohne die Frau Philosophie kaum wirtschaften kann;
sie zieht, das ist klar, die exakten vor.
342
Ein Philosoph, der die Philosophie als eine Wissenschaft deklariert, kommt mir wie
ein Generaldirektor vor, der sich als seinen eignen Prokuristen ausgibt, oder wie ein
Feldmarschall mit der cisvestitischen Neigung, in der Uniform eines Feldwebels spazierenzugehn.
Man möchte sagen: Kleinheitswahn! Und doch liegt jener Deklarierung und Selbstdegradation
die größenwahnsinnige Vorstellung zugrunde, der Philosophie müsse gelingen,
was den Wissenschaften gelingt: ihre Probleme zu lösen; auf ihre Fragen Antworten
zu erteilen, die objektiv richtig, nachweisbar richtig, allgemeingültig, unanfechtbar
sind.
343
Ich sagte einem Moralphilosophen, dessen streng anti"bequeme" Lehre ihm selber
mit Selbstverständlichkeit als "objektive" "Wissenschaft",
"ähnlich der Mathematik", galt: Mein Lieber, mit meinem Zweifel lebt
sichs lange nicht so bequem wie mit deinem Glauben!
344
Soviel Ursache ich habe, den Philosophen Demokritos zu lieben, welcher vor vierundzwanzig
Jahrhunderten ein zwar demokratischer, aber auch demo-kritischer Denker war und mithin
seinem Namen Ehre machte, so sehr muß ich ihm doch widersprechen, wenn er die
Äußerung wirklich getan hat, die man ihm zuschreibt: "Ich möchte
lieber einen einzigen ursächlichen Zusammenhang entdecken, als König der
Perser werden." Nein, da bocke ich und gestehe, daß ich meinerseits, und
sei es für ein einziges Jahr, lieber die Geschicke eines selbst weit kleineren
Volks als der Perser wirksam mitbestimmen möchte als ein ganzes Leben lang ungestört
Kausalbetrachtungen anstellen. Zugegeben, Genosse Demokrit, daß in Ihrem vornaturwissenschaftlichen
Zeitalter, wo die Naturphilosophen ungefähr so zurück waren wie in meinem
nur noch die Sozialphilosophen, der Hunger nach verbürgten Kausalzusammenhängen
heftiger und etwas Geistigeres gewesen ist, als er heute sein kann; dennoch bleibt
uns ja auch heute, bei allen Triumphen exakter Wissenschaft, die Endursache im Dunkel
(wie gerade Sie schon damals wußten) - im Dunkel, weil wir nicht aufgehört
haben, Menschen zu sein; während die politische Aufgabe nachgerade lösbar,
den Gemeinschaften ein wenig Vernunft und Glück bei redlicher Anstrengung durchaus
beibringbar wäre. Oder?
345
Leider ist man kein Herakles und demnach gegen die Hydra machtlos. Nur dazu bleibt
man in der Lage: sie unbedingt nie zu streicheln.
346
Für das Auge des Gelehrten hat der Gedanken-Gang des Denkers etwas Hüpfendes,
für das Auge des Denkers der des Gelehrten etwas Kriechendes.
347
Die Realisten in der Malerei (von Frans Hals bis Liebermann) haben gleichsam eine Dimension
zu wenig: die vierte. Die Surrealisten beschränken sich auf die vierte und geben
vor, es sei Malerei.
348
Nicht alle Maler sind Pinsel, nicht alle Schriftsteller Schreib-Maschinen.
349
Freundschaft mit Schriftstellern hat manchen Reiz, aber den ungeheuren Nachteil, daß
man sich gezwungen findet, ihre Bücher zu lesen.
350
Als die schärfste Antithese innerhalb der intellektuellen Schicht der Gesellschaft
erscheint mir nicht der Gegensatz zwischen irgendwelchen Doktrinen, Ideologien, Systemen,
Stilen, Ismen, sondern der Kontrast zwischen unabhängigen Geistern und angestellten.
Der bedeutende Kopf, der mittelmäßige Kopf - scharfe Spannung. Der unabhängige
Kopf, der angestellte - eine noch viel schärfere! Da nun ein unabhängiger
Kopf durchaus mittelmäßig sein kann und ein bedeutender leider angestellt,
so ist die Diagnose in jedem Einzelfall höchst verwickelt.
351
Es gibt immer noch Leute, die sich weigern, zwischen Zivilisation und Kultur zu unterscheiden;
diesen Unterschied zu machen, sei Wichtigtuerei von Mystikern oder Spitzfindigkeit
von Haarspaltern. In Wahrheit wird der Abgrund, jawohl: Abgrund, zwischen beiden Begriffen
schauderhaft sichtbar in der Anekdote von jenem Missionar, der in der Südsee zwanzig
Jahre unter Menschenfressern lebte und während dieser Zeit zwar mitnichten erreichte,
daß auch nur ein einziger von ihnen die furchtbare Gewohnheit aufgab, wohl aber,
daß sie sämtlich mit Messer und Gabel aßen. Begreifen die Anti-Haarspalter,
daß dieser Missionar seine Wilden zwar der Zivilisation um einen Schritt, aber
der Kultur um keinen näher gebracht hat?
352
Wir wollen niemand von seinen Lastern entlasten, indem wir sie auf "Dämonen"
schieben. Dämonen bleiben ein alberner Aberglaube verklungener Zeiten. Nichtmal
zur Metapher eignen sie sich. Denn eine Metapher zieht die andre nach sich; die Dämonen
den Scheiterhaufen; und ist der Scheiterhaufen erst einmal metaphorisch da, dann läßt
er auch real nicht lange mehr auf sich warten. Wer aber soll ihn besteigen - nach dem
Wunsche der "Dämonen"-Affen in unserer Publizistik heute? Sie selbst,
gemäß ihrem schlechten Gewissen? O nein; wir!
353
Wenn die Deutschen kollektiv einen Irrsinn begangen haben (etwa die Erwählung
ihres ungebildetsten Wachtmeisters zum Reichspräsidenten oder die Ermächtigung
ihres ruchlosesten Verbrechers zu ... was-immer-ihm-Spaß-macht), einen glatten,
runden Irrsinn, an den Warnungen und dem Widerspruch ihrer eignen Minderheit höhnisch
vorbei, und die Umwelt renkt diese Nation einigermaßen unsanft wieder in den
Vernunftzustand, dann glauben die aus dem Wahne Erwachenden, die ganze Menschheit sei
von Dämonen besessen gewesen. Sie deuten ihre eigne Krise als Krise der Welt;
und tun dies übrigens nicht ohne gewissen Stolz auf die metaphysische Ehre, die
ihnen zuteil ward, am rabiatesten von der Krise gerüttelt worden zu sein. Wer
diesen Stolz nicht teile, sei ein platter Rationalist, der nie lernen werde, wo Gott
wohnt. - Es ist, wie wenn in einer Irrenanstalt, nach leidlich geglücktem shock
treatment, der Exverrückte zwar zutreffendermaßen sich selber, zugleich
aber auch (und eigentlich in erster Linie) den Stab der Ärzte und Pfleger für
eben genesende Psychotiker hält.
354
Soweit sie den deutschen Jammer nicht den Dämonen in die Schuhe schieben, führen
sie ihn auf das Verhältniswahlrecht zurück.
355
Eher noch ist der Durchschnittsdeutsche bereit, in mystischer Zerknirschungs-Verklärung
seine Nation "als Ganzheit" für eine Verbrecherin zu halten, als ekstaselos
diejenigen seiner Landsleute für individuelle Verbrecher, die es wirklich waren
oder sind.
356
Der Auswurf, der Hitler emportrug, schiebt die Schuld an den Folgen auf die demokratischen
Großmächte, weil sie nicht schlagfertig genug waren, die Machenschaften
des Auswurfs mit dem Präventivkrieg gegen den Auswurf zu beantworten.
357
Nachdem Tollheit die Nation in den Abgrund kutschiert hat, sollte man meinen, daß
die Vernunft hoch im Kurse stünde. Das Gegenteil ist der Fall. Dafür, daß
man auf Kant nicht hörte, straft man ihn mit Verachtung. Selbst in der Presse
der Freiheit sind Schmähungen und Hohn auf die Vernunft an der Tagesordnung, der
Obskurantismus schickt seine fünfte Kolonne unter den Strich, und alles treibt
sachte einer neu-mittelalterlichen, illuministischen Diktatur zu. Die völkisch-illuministische,
gestern, ist vergessen. Das gebrannte Kind schreit nach dem Feuer.
358
Ein halbes Jahrhundert lang von aller Vernunft verlassen, hat der Bildungsdeutsche
sie dafür zur Rechenschaft gezogen und sich endgiltig dem Irrationalismus verschrieben.
359
Irrationalismus: das Unterfangen, Denkdinge mittels andrer seelischer Funktionen bemeistern
zu wollen als mittels der Vernunft; eine der Vernunft ausgesprochen feindliche Bewußtseinshaltung.
Rationalismus: das Selbstbewußtsein der Vernunft; eine positive Bewertung außervernünftiger,
nämlich außerdenkerischer Dinge (Hauptbeispiel: Liebe) keineswegs etwa ausschließend!
Während der Irrationalismus die ratio aus dem Gebiete ihrer Zuständigkeit
stichelnd zu verdrängen sucht, ehrt der Rationalismus die Gefühle auf dem
Gebiete ihrer Zuständigkeit. Der Rationalismus hat mithin gegenüber dem Irrationalismus
nicht nur recht, sondern er ist auch weniger unverschämt. Er verteidigt sein Gebiet;
während der Irrationalismus fremdes Gebiet imperialistisch zu invadieren sucht.
(Hierzu paßt vorzüglich, jenseits der Metapher, daß der aggressive
Imperialismus nicht etwa in der Vernunft wurzelt, sondern in den Trieben, im "Es",
im Irrationalen.)
360
Das einzige, wodurch der Mensch sich vom Tier unterscheiden könnte, wenn er wollte,
wäre: die Vernunft.
361
Sie entdecken den Balken im eignen Sehorgan nicht und diagnostizieren den Glanz im
fremden Auge als Splitter.
362
Die Symphonie der Gedanken großer Geister zeigt Scheinwidersprüche, und
nichts tun kritische Pygmäen lieber, als sie ihnen anzukreuzen. Dagegen die ganz
ordinäre Widersprüchlichkeit im Opus unsrer verantwortungs- und witzlosen
Kleingeister mit hochgezogener Braue wird als dialektische Fülle oder existentielle
Tiefe gerühmt.
363
Mit der naiven Dummheit könnten wir fertig werden; mit der unnaiv, verlogen und
boshaft die Vernunft herabsetzenden Scheinphilosophie, ihrer kriterienlosen Aalschlüpfrigkeit,
ihrer hochstaplerischen Reklame für mythisch - magisch - mystische Denkfühlerei
kämpfen Götter selbst vergebens.
364
Übrigens ist unter den Gattungen philosophischer Hochstapelei jene, die sich bemüht,
die Vernunft verächtlich zu machen, nur die zweitärgste. Die ärgste
ist die, deren fauler Tiefsinn uns weismachen möchte, die Vernunft herrsche bereits,
sie sei das der Welt immanente Prinzip, sie komme in jedwedem vorgefundenen Staat nicht
minder zum Ausdruck als in den Bahnen der Gestirne, und unsre einzige Aufgabe sei,
ihrer gewahr zu werden, gerade in den zufälligen und überlebten Organisaten
fragwürdiger menschlicher Macht. Den vorgefundenen Staat nicht kritisieren, ihn
nicht ändern und umformen wollen, nein, ihn als Ausdruck der Weltvernunft begreifen
lernen, um sich mit ihm zu "versöhnen", mag er beschaffen sein wie -auch-immer,
- das lehrte Hegel und das impliziert auch die mit einem fashionablen Ismus beklebte
moderne Hegelei. Wir dürfen Hegel definieren: Hegel oder die Deutung des Massenmords
an Kindern als Ausdruck der Weltvernunft.
365
Verbindet sich der Mangel an Scharfsinn mit der Unfähigkeit, sich auszudrücken,
mit der ostentativen Gleichgültigkeit gegenüber gewissen gesicherten Errungenschaften
der Philosophie, mit eisiger Kälte vor den ewigen Forderungen der Gerechtigkeit,
mit der bösen Lust, so oft es geht, vorwärtsschreitender gesellschaftlicher
Vernunft ein Bein zu stellen, und mit dem Willen, trotz alledem zu imponieren, so ist
in Deutschland von "Existentialismus" die Rede. Das "existentielle"
"Anliegen" hat weder mit Kierkegaard noch mit Sartre auch nur das geringste
zu tun! Unser deutscher "Existentialismus" ist Hegel-Aufguß, während
es einen schärferen Verwerfer der Hegelei als Kierkegaard nicht gab - wie schon
aus einem einzigen seiner Sätze hervorgeht (welcher aus 1844, dem Geburtsjahre
Nietzsches, stammt): "Alles Reden von einer höheren Einheit, die absolute
Gegensätze vereinigen soll, ist ein metaphysisches Attentat auf die Ethik."
Genau dies Attentat ist der deutsche "Existentialismus", in seinen beiden
Ausfertigungen, besonders der frommen. Sartre, woran es nichts zu deuteln gibt, ist
aktivistisch und a-theistisch.
366
Die einzige Litteratur, die als unzüchtig verboten werden sollte, ist die, die
versucht, das Vertrauen der Vernunft zu sich selbst zu erschüttern. Leider nur
können wir solch ein Verbot einem Staate nicht vorschlagen, dessen Verfassung,
indem sie die Mehrheit als unumschränkten Zaren einsetzt, den Aufstieg der Vernunftwidersacher
zur Macht nicht nur nicht verhütet oder seine Wahrscheinlichkeit auch nur senkt,
sondern ihn geradezu begünstigt. Die Gefahr, daß solch Verbot nur zu bald
von Leuten, die sein Grund waren, aufs boshafteste gegen Tendenzen praktiziert würde,
deren Förderung sein Sinn ist, übersteigt die pädagogischen Vorteile,
die man sich für den Anfang von ihm versprechen könnte.
367
"Weltvernunft" ist die Ausrede der Konsolidierten und Konservativen, die
den Menschen andern Schicksals und andern Schlags hindern möchten, seine Vernunft
zu gebrauchen und durchzusetzen. Das Gestammel und Gestottere vom "Nichts"
der Welt läuft auf den nämlichen Unfug hinaus. Aber auch "Weltanschauung"
ist eine trübe Angelegenheit. Auf die Gefahr hin, mit klerikalen Eiferern verwechselt
zu werden, die aus ungleichem Grunde das Gleiche sagen (im Omnibus der Negation sieht
man sich oft neben peinlichen Fahrtgenossen), bekenne ich: Ich würde die Welt
leidenschaftlich gern anschauen; es geht nur leider nicht! Anschauen kann man Teilchen
der Welt, nicht die Welt. Um die Welt anschauen zu können, müßte man,
mindestens für kurze Zeit, außerhalb ihrer stehn. Mag also sein, daß
Tote in die Lage kommen, die Welt anzuschauen; Lebendige nicht. Was Lebendige können,
ist: die Welt wollen, und: durch die Freiheit ihres Willens sie ändern, nach Prinzipien
der Vernunft; ganz gewiß nur den Teil der Welt, für den der Mensch zuständig
ist. Seit den ältesten Zeiten reden die Verdummer uns ein, daß es solchen
Teil. des Seins nicht gebe. Zerschmettern wir endlich ihre Macht!
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