1952 erschien im Verlag Kurt Desch, München, das umfangreichste Aphorismenbuch Hillers, "Der Aufbruch zum Paradies". Ein Buch gleichen Titels hatte er bereits 1922 herausgegeben. Die Ausgabe 1952 enthält fast alle der Aphorismen von 1922 und eine gleichgrosse Anzahl von in der Zwischenzeit entstandenen Aphorismen.

Nachfolgend die Aphorismen des Kapitels "Vom Menschen":


274
Es gibt Menschen, denen in gleicher Art der Sinn für Qualität abgeht, wie andre blind oder taubstumm sind. Nur ist die erste Sorte ungleich zahlreicher - so daß sie nicht als pathologisch rechnet.

275
Wir verehren das Große, unabhängig von unsrer Entscheidung über die Frage der Willensfreiheit. Wir verdammen den Schuft, obwohl er "nichts dafür kann", daß er einer ist; und durch analoge Erkenntnis wird unsre Freude am adligen Charakter nicht beeinträchtigt. Begeisterung will einen Adressaten - schon weil sie Dankbarkeit enthält. Sie wählt dazu, da der Weltenlenker verborgen bleibt, den Menschen, der sie hervorgerufen hat.

276
Der Große zeichnet sich dadurch aus, daß er Ehrfurcht vor dem Größeren empfindet und bekennt. Diese Haltung ist geradezu ein Kriterium der Größe. Kontrast: die typischeArt, wie der Philosophieprofessor den Philosophen behandelt, der Journalist den Schriftsteller, der Funktionär den Führer. (Die unparadigmatischen, weil untypischen, also die Ausnahmefälle zeigen, daß selbst Philosophieprofessoren, Journalisten, Funktionäre durch Größe ausgezeichnet sein können. Paradigmatisch bleiben indes die typischen Fälle. Typologie ist nötig und ... sie ist möglich. Ihre Möglichkeit scheitert nicht am Unpräzisen, Inexakten, Varianten, Wogenden ihres Gegenstands, welcher immer eher Regeln darbietet als Gesetze.)

277
Es gibt Ehrfurchtslosigkeit aus Trotz und Ehrfurchtslosigkeit aus Dummheit (richtiger: aus Flachheit) - so wie es Ehrfurcht aus Erlebnis gibt und Ehrfurcht aus Konvention (abermals: aus Flachheit). Die Ehrfurchtslosigkeit aus Trotz kann erträglich, kann amüsant, ja kann produktiv und ... ehrfurchtgebietend sein (das Genie beginnt fast immer mit Ehrfurchtslosigkeit); die Ehrfurchtslosigkeit aus Flachheit ist ohne Ausnahme unerträglich. Genau so unerträglich ist die Ehrfurcht aus Konvention; bloß, sie ist obendrein lächerlich. Ehrwürdig und schön und die allein echte ist die Ehrfurcht aus Erlebnis. Nur der Mensch von Rang ist ihrer fähig - vielmehr erkennt man, daß ein Mensch Rang hat, eben an seiner Fähigkeit zu ihr. Er wird sie naiv, vom Blut her, aus innerm Muß betätigen, nicht aus Selbstzwang, Pflichtgefühl, einem "Soll". Der differenzierte Mensch von Rang genau so wie der (im Wissenssinn) ungebildete Mensch von Rang. Männer sind selten, Frauen noch seltener der echten Ehrfurcht fähig; was bei Frauen so häufig so aussieht, ist in der Regel nicht Ehrfurcht (eine geistige Angelegenheit), sondern erotische Hingabe mit dumpfem Hörigkeitswunsch, wobei das Geistige an dem verehrten Manne die Rolle eines "sekundären Sexualmerkmals" spielt.

278
Ehrfurcht und Demut - das Entgegengesetzteste setzen die Meisten gleich. Während die Forderung der Ehrfurcht aristokratischer Wertlehre entstammt, welche Größe kennt, ist die Aufforderung zur Demut (sie ergeht an Alle, doch besonders an Überlegene) ochlokratisch, ein Mittel der Mittelmäßigen, sich an der Macht zu halten. Man kann die der geistigen Aktion gefährlichste aller modernen Ethiken, die von der "Individualpsychologie" A. Adler's vorgetragene, auf die Formel bringen: sie verwirft Ehrfurcht, sie verlangt Demut.

279
Freud zu Adler wie Adler zu Käuzchen.

280
Nirgends scheint mir die wechselseitige Ehrfurcht der Geistseele vor dem leiblichen und der Leibseele vor dem geistigen Adel ergreifender geformt als in jener antiken Legende: Pindar starb im Theater von Argos, das Haupt auf die Schulter eines jungen Athleten gelehnt, den er besungen hatte.

281
Ein Turner, als solcher, ist kein Philosoph. Ich bin für Philosophie. Bin ich darum gegen Turnen? Widerwärtig wäre nur die Wendung: "Wahre Philosophie ist, ... zu turnen." (Oder "zu tanzen"; oder "in den Wald zu gehn"; oder "zum Volke".)

282
Kungfutse sagt: "Unter wirklich Gebildeten gibt es keine Rassenunterschiede." Der Hakenkreuzler sagt: Unter wirklich Rassebewußten gibt es keine Bildungsunterschiede. - Man muß den Hakenkreuzler ablehnen, denn ihm ist das Geistige unerheblich; man müßte auch das Wort des großen Chinesen ablehnen, wäre sein Sinn, das Rassische für unerheblich zu erklären. Rasse und ihr Unterscheidendes ist freilich nicht zu bewerten, aber: zu genießen.

283
Es gibt nur eine einzige Gruppe Menschen, bei der man soviele Schurken antrifft wie bei den Juden; das sind die Nichtjuden.

284
Die meisten Juden taugen nichts und gleichen darin den meisten Christen.

285
Nationalität ist keine Angelegenheit der Zoologie. Über die Nationalität eines Menschen entscheidet sein seelisch-geistiges Präsens und nicht sein biologisch-ethnisches Präteritum.

286
Güte ist nicht nur eine Forderung, sondern sie ist eine Realität, die im Weltall bereits vorkommt. Ich fand Güte, chemisch rein, in dem rührenden Freudengespringe, Freudengeheul und Freudenblick eines Hundes, der mich in der Wohnung seines Herrn nach einem halben Jahre wiedersah (wiedererkannt hatte er mich nach einer halben Sekunde). Daß der Hund eine Seele hat, ist für den, der erlebte, was ich da erlebte, nur dann möglich zu leugnen, wenn er zugleich leugnen wollte, daß der Mensch eine Seele hat. Und eher noch hat der Mensch keine als dieser Hund, dessen Wiedersehensentzücken ein Affekt von so prächtiger Ungebrochenheit war, wie sie bei den Affekten der Menschen, wenigstens der "zivilisierten", kaum noch vorkommt.

287
Ein König von Gottes Gnaden verlor seine Krone. Er hatte nun zwischen zwei Erkenntnissen zu wählen: der, daß die Krone kein Geschenk der göttlichen Gnade gewesen war, und der andern, daß ihm Gott seine Gnade entzogen hatte. Gegen beide Diagnosen bäumte sein Stolz sich auf. So entschloß er sich zu einer dritten: daß der Verlust der Krone nur eine Prüfung sei, die Gott an ihm vornehme; eine Prüfung von kurzer Dauer. Mit dieser Klappe waren zwei Fliegen geschlagen: der Stolz geschont und die Hoffnung genährt.

288
Der Schöpfer der "positivistischen" Philosophie, Auguste Comte, so erzählt in seinem Kapitel 'Die Unentbehrlichkeit des asketischen Ideals' der klerikale Moralist F. W. Foerster, sei "der erste moderne Denker" gewesen, "der die Askese wieder in ihr Recht einsetzte, und zwar im Namen der sozialen Erziehung. Er pflegte stets nach dem Mittagessen statt des Desserts ein Stück trockenes Brot zu essen, um dabei an diejenigen zu denken, die nicht einmal das haben". - Wahrscheinlich, falls die Geschichte überhaupt stimmt, litt Comte an überschüssiger Magensäure.

289
Unter den Methoden des Intellekts, sich der Sexualität zu nähern, gibt es zwei schmutzige: die Zote und die Muckerei.

290
Die Freude an der Blume, am schönen Tier, an Frucht und Trank und hundert Leckerbissen, an bunten Steinen und am Menschenleib - sie ist zwar nicht des Geistes, aber noch viel weniger ist sie wider den Geist. Das Postulat der Askese ist grundlos. Völlig ohne individuelle, private Vorwegnahme des Paradieses müßten wir ersticken: in Nur-Pflichten-Luft, im Armeleutgeruch der graugelben spitzäugigen Sozialmucker, in paulinischem Mief.

291
Das Ja zur Schönheit wird unverantwortlich, verwerflich, "Ästhetizismus" nur dann, wenn ihm ein Nein zur ethischen Aufgabe beigeordnet ist, zu der Aufgabe, Allen alles aus der Welt zu räumen, was für das Erblühen der Schönheit, ihr Sichauswirken und für den Genuß der Schönheit ein Hindernis bildet. Übrigens kommt der Verneinung dieser Aufgabe ihre Bagatellisierung gleich, wie wir sie von metaphyselnden Kunstkneipern kennen, die uns "Weltverbesserer" lächelnd ihres Wohlwollens versichern. Ohne es zu ahnen, sind sie die Fünfte Kolonne der Muckermacht.

292
Definition des Aktivismus (des humanistischen; es gibt auch einen bestialischen, aber der zählt nicht): -daß es zuerst darauf ankommt, die Hölle zu löschen; dann erst, sie zu malen.

293
Paradiesisches im Heute ist nicht zu verachten, auch nicht vom Standpunkt des Aktivisten aus. Zu verwerfen ist nur der Anspruch des Genießers, geisthaft zu sein, indem er Früchte nascht. (Ich erinnere an das drollig-prätentiöse Ge-ethele gewisser Schreiber über den Tanz - welcher doch, selbst in seinen verfeinertsten Formen, ein Erotikon bleibt und nicht "wahre Philosophie" ist, "eigentliche Religion", "tiefste, weil chthonische Kunst", gar "höchste Form von Politik"!) Bei aller Komik gewisser Kosmik bleibt die Vermanschung von Substanz aus der Erossphäre mit Substanz aus der Logossphäre das unappetitlichste der Geschäfte, und mitnichten ist eine Sinnlichkeit, die sich als Geistigkeit aufspielt, sympathischer als jene Krüppelgeistigkeit, die gegen die Sinnlichkeit Amok läuft.

294
Ich weiß, daß der Geist nie an seinem Ziele ist. Aber wäre ers eines Tages, so würde er plötzlich aufgabenlos und müßte absterben. Er hätte allen seinen Sinn und Wert verloren. Die Schönheit besäße den ihren immer noch. Die Schönheit hat kein Ziel - sie ist eines. Ihr Wert kann nicht untergehn.

295
Sage mir, mit welchem Blick er die gefällte Edeltanne ansah, und ich will dir sagen, wer er ist.

296
Es gibt wortgütige und tatgütige Menschen. Die wortgütigen sind im Handeln meist kalt und ichsüchtig, die tatgütigen sind oft linkisch-schweigsam oder stachlig. Menschen der Güte in Wort und Tat sind so selten, daß wir sie Engel nennen dürfen.

297
Ich habe gefunden, daß Dem, der vom sogenannten Laster der Rachsucht frei ist, auch die unumstrittene Tugend der Dankbarkeit zu fehlen pflegt. Kein Wunder! Sind doch beides nur zwei Seiten einesunddesselben Hanges zur individuellen Durchsetzung der Gerechtigkeit, zum persönlichen Mithelfen an der Verwirklichung des Ideals, daß im Bereich des sittlichen Geschehens kein Ereignis ohne Folgen bleibe.

298
Rache ordentlich und wirksam zu üben, ist unbequem - mindestens so unbequem wie Dank. Mangel an Rachsucht beweist also einen peinlichen Überschuß an Bequemlichkeit.

299
Unter jenen Krüppeln der Seele, denen der Wille zur Rache und zum Danke fehlt, sind Frömmler, die, zur Rede gestellt, "Gründe" vorzeigen, etwa den: daß keine Groß- noch Guttat je von Menschen getan werde, sondern von Gott durch Menschen, und die Übeltat gleichfalls nicht vom Menschen, sondern von einem Dämon durch den Menschen, welcher demnach in beiden Fällen nur Werkzeug höherer Mächte sei. Alle Menschen seien das ständig, in allen Fällen; mithin habe man nicht Menschen zu danken, sondern Gott zu danken, und nicht an Menschen Rache zu üben, sondern "die Dämonen zu bekämpfen" - "besonders die in der eigenen Brust", pflegt der Krüppel hinzuzufügen. Nun, wenn dem so ist, im Guten wie im Bösen, dann sollten schnellstens Orden und Ehrenzeichen, Denkmäler und Gedenkfeiern für Große beseitigt werden und, am andern Ende, das Strafrecht - schleunigst, schleunigst! Von solchen Abschaffungen wollen die Krüppel der Seele natürlich nichts wissen; denn sie sind, wie alle Nicht-Temperamente, konservativ und, wie alle Konservativen, inkonsequent.

300
Verwachsene, wenn sie ein bißchen intellektuell sind, haben oft einen Blick, als sei Geradheit flach. Intellektuelle, wenn sie geistig ein bißchen verwachsen sind, haben diesen Blick immer.

301
"Fünf gerade sein lassen", das geht zur Not an und mag bisweilen sogar ein Verdienst sein. Eine Nichtswürdigkeit ist das viel Häufigere: die Vier als ungerade zu verleumden!

302
Unter einem ganz schlicht menschlichen Gesichtswinkel, nämlich dem der Anständigkeit, gibt es drei charakterielle Typen:
Den von Geblüt Anständigen;
den nur aus Anstand Anständigen;
den ehrlich Unanständigen.
Der zweite Typ, so nützlich er bisweilen sein kann, ist nicht nur widerlicher, sondern auch gefährlicher als der dritte! Denn er ist schwerer durchschaubar und sein Verhalten ohne System.

303
Aus zu großer Nähe werden Freunde gegeneinander manchmal wertblind.

304
Die kältesten Länder haben die besten Öfen. In Italien friert man winters - in Skandinavien nicht. So haben wohl auch die in ihrem Durchschnitt geistfernsten Völker die größten Philosophen. Und sollte am Ende die unvergänglich kanonische Pracht der antiken griechischen Plastik der Beweis sein, daß die Hellenen das häßlichste Volk des Altertums waren?

305
Auch Pegasus braucht eine Stute. Er nahm sich eine. Die Stute sah in ihm nur den Hengst. Und als Europa durch Zeus geehrt wurde, hielt diese Kuh ihn für einen Stier.

306
Antifeminismus ist unverzeihlich. Aber vergegenwärtige ich mir, daß unter 100 Fällen, wo ich von Personen mit großer Tasche (getragener) ohne böse Absicht, nur egozentrisch-achtlos gerempelt worden bin, höchstens 2 Fälle von Aktentasche und mindestens 98 von Damenhandtasche waren, dann begreife ich ihn.

307
Logik. - Das Telephon. Ich melde mich: "Hallo!" Eine runde, reifere Frauenstimme: "Otto?" Ich (anders heißend): "Wen wollen Sie denn sprechen?" Sie: "Ist dort nicht 544?" Ich: "Nein, 1144." Sie (spitz, klaftig, in vorwurfsvollem Ton): "Fffünf, habe ich gebeten!" Aus.

308
Von einem bestimmten Augenblick ihres Lebens an verfallen unsre Freunde (nicht alle!) auf die bizarre Manier, uns nur noch verdoppelt vor die Augen zu treten, nämlich vermehrt um eine Ehehälfte, - als ob wir unsre Sympathie für sie mit Selbstverständlichkeit, mir nichts dir nichts, auf ein Menschenexemplar Numero Zwei übertragen könnten, alle Heimlichkeiten der Seele und Schamhaftigkeiten des Geistes statt mit dem einen Vertrauten auf einmal mit zweien zu teilen vermöchten, davon der eine kein Vertrauter, sondern ein Fremder und obendrein eine Fremde ist; welch eine Naivität, fast Dummheit (klügster Menschen!), ja Frechheit (feinster!), welch eine Paralyse des Feingefühls! Wenn nun mein Freund mit seinem Großvater angetanzt käme; der ein Ehrenmann sein mag. Aber mit seiner Geliebten, die schließlich nicht meine ist, so wenig wie sein Großvater meiner ist, oder mit seinem Ehegespons - das soll auf das Zarteste der Freundschaft weniger tödlich wirken? "Der Freund sei euch das Fest der Erde", steht bei Nietzsche. Er meinte damit kein Familienfest. Gerade, wenn man die Frauen als Menschen, als Menschen "andrer Art doch gleichen Wertes", ehrt, der einzelnen also grundsätzlich zuspricht, was man dem einzelnen Manne grundsätzlich zuspricht: Persönlichkeit (im Stile des kritischen Idealismus: Würde), sie mithin als Besseres denn als bloße Funktion ihres Mannes deutet und als sein Zubehör - gerade dann ist die Gepflogenheit, wider die ich mich hier wende, einfach beleidigend für die Frau. Hat sie Ehrgefühl, dann sollte sie nicht zulassen, daß ihr Mann sie in ein Vertrauen schleppt, das gar nicht ihr gilt noch gelten kann, sondern ausschließlich ihm. Es zerbräche, weit entfernt, sich zu verdoppeln. Ganz ginge das Gewachsene nicht verloren? Der Rest ist flache Bürgerei!

309
Mutter ist ein erhabenstes Phänomen, und außer dem Heuchler wirft nur der Narr Steine auf die Hetäre; aber beide passen als Argument nicht in die Rede des Verteidigers, sitzt auf der Anklagebank die Dame - die Dame mit gemalten Brauen, beschmierten Lippen, gefärbten Nägeln.

310
Theodor Storm, wie sicher viele bürgerliche Standbilder, taugt mehr als seine Adoranten. Er ist herzlicher, harmloser, feiner, tiefer, besser. Immerhin weiß ich, woher meine Abneigung stammt, wenn ich in seiner frühesten Novelle 'Marthe und ihre Uhr' (1847) lese: "An Blumen hatte sie eine große Freude, und es schien mir ein Zeichen ihres anspruchslosen und resignierten Sinnes, daß sie unter ihnen die weißen und von diesen wieder die einfachen am liebsten hatte." Das sagt Storm nicht etwa, um beim Leser Antipathie gegen das Mädchen zu wecken; er sagt es preisend. Zumindest sagt ers aus Widerwillen gegen den Gegentyp, welcher nicht "anspruchslos" und nicht "resigniert" dahinlebt, sondern sich in den Augen eines moderativen Muckers als prätentiös und draufgängerisch, vielleicht gar als rebellisch spiegelt und jedenfalls just die weißen und einfachen Blumen, die Gänseblümchen, keineswegs liebt. Ich für mein Teil habe nicht nur für den Simplismus im Erkennen, sondern auch für den im Empfinden wenig übrig und liebe die farbigen und komplizierten Blumen, die seltenen und seltsamen, die kostbaren und unheimlichen ... bis zur Orchidee. Bis zur Orchidee, samt allen etwa aufschimmernden meta-botanischen Hintergründen.

311
Der Philister pflegt das, was seiner eigenen Natur widerspricht, beim Nebenmenschen als unnatürlich zu bezeichnen - auch dann, wenn es dessen Natur völlig gemäß ist. "Natürlich", "unnatürlich": falls diese Wörter einen Sinn haben sollen, dann kann es nicht der sein, auszudrücken, was Herrn Meyer natürlich und unnatürlich erscheint. Ihr Begriff ist nur sinnvoll, wenn er sich relativ nimmt; wenn er anzeigt, was der Natur eines bestimmten Menschen oder eines bestimmten Typus Mensch entspricht und widerspricht. Die Relativität des "Natürlichen" offenbart sich an wenig Stellen der Litteratur so ergreifend, das heißt die Einen ergreifend, die Andern herausfordernd, wie in jenem leicht gereizten Brief Oscar Wilde's an Robert Roß, 1896, aus dem Zuchthaus: "Wenn ich mein zukünftiges Leben damit verbringe, Baudelaire in einem Café zu lesen, so werde ich ein natürlicheres Leben führen, als wenn ich die Arbeit eines Heckenausbesserers verrichte oder in schlammigem Moor Kakao pflanze."

312
Den Menschen der "Jugendbewegung" (und der Nachfolgekreise) imponiert nur bärtiger Ernst. Wenn ihr für Tänze und Fröhlichkeit seid, Änne und Heiner, warum seid ihr dann nicht auch für einen Geist, der tanzt, warum dann nicht auch für 'fröhliche Wissenschaft'?

313
Die "Jugendbewegung" war ein Irrtum: weil sie den Geburtsschein wichtig nahm. Kampf der Generationen gegeneinander ... das ist eine abgeklungene Musik; Kampf der Zielgleichen quer durch alle Generationen, miteinander für das gemeinsame Ziel, gegen den gemeinsamen Zielgegner quer durch alle Generationen - das ist das geschichtlich Neue (und Uralte!).

314
Jugendlichkeit ist nicht das Monopol des Jünglings und Reife keine unausbleibliche Tugend des Mannes. Neue Formen von Bündnissen kristallisieren sich heraus: intergenerationelle, bei denen die wechselseitigen Überlegenheiten für das Bündnisziel fruchtbar gemacht werden; jede Tugend, jede Begabung und jede Generation ist jeder andern zugleich unter- und überlegen.

315
Innerhalb der neudeutschen Jugend fallen zwei Typen auf: die tierisch Ernsten, die ihren Mangel an Witz als tiefere Bedeutung ausgeben (diese Gattung gab es immer), und die seicht Frechen, die ihre durchaus ungedeckte und fade Frivolität spazierenführen, als sei sie ein Beweis rebellischer Unabhängigkeit, ein Merkmal philosophischer Skepsis, ein Kennzeichen großartiger Überlegenheit des Genies (diese Gattung ist neu). Mag in der Humorlosigkeit der Ersten Wohlwollen den Ausdruck innerer Bescheidenheit sehen, so bleibt der Unernst der Zweiten bestenfalls als Ignoranz zu deuten, als - halb oder gar nicht verschuldete - Unwissenheit, die, statt sich durch Lernen langsam aufzuheben, faul und billig grient.

316
Die Skepsis der Jünglinge beruht in der Hauptsache auf zu wenig Kenntnissen, die Skepsis der Greise auf zuviel Erfahrung.

317
Verschiedene Konjunktive. - Du begegnetest da neulich, verehrter Freund, einem jungen Niemand und behandeltest ihn menschenhaft; er aber! Während du tatest, als sei kein Abstand zwischen euch vorhanden, benahm er sich, als wäre keiner da.

318
Gesellschaften. - Je besser das Essen, desto schlechter die Konversation. Pute ist wunderbar; aber nur die aufgeschnittene, nicht auch die ausgeschnittene. Am wenigsten dann, wenn sie ältlich ist und gackernd Aphorismen über Thomas Mann legt. Auch Zunge ist fein; aber sie darf nicht von Rilke lispeln.

319
Jede zusammengewürfelte Gesellschaft sinkt nach kurzer Zeit auf das Niveau ihres niedersten Mitglieds. Ursache: dessen Unverschämtheit und die Schamhaftigkeit der höheren. Gegen das Gekreisch der Affen im Urwald kommt der Leopard nicht auf; und es wäre auch gegen seinen Stolz, es zu überbrüllen.

320
Es geht nicht, daß die Pfütze Klage führt über den schlechten Zustand der Landstraße.

321
Er ist eine Qualle. Dann zieh ich mir schon Krebse vor! Die gehn zwar rückwärts, aber man kann sie packen.

322
Mit dem Grandseigneur kann der Arme, der Geistige reden; mit dem mächtigen Spießbürger nicht.

323
Der von Natur glückliche Mensch kann nie so glücklich sein, wie es in seltnen, gesegneten Minuten der von Natur unglückliche ist; dafür kann jener in seiner verruchtesten Stunde unglücklicher sein als der unglückliche durchgehends.

324
Aus tausend Rosenblättern gewinnt man einen Tropfen Rosenöl; ein Aphorisma Geist kostet einen Roman Leid.

325
Täglich ereignet sichs, daß Millionen Selbstmorde, die das zu Erwartende und Natürlichste wären, nicht geschehen. Wie erklärt sich das? Aus der Angst vor dem Totsein? Keineswegs. Sondern aus der Angst vor dem Sterben. Das Grauenvolle ist der Übergang, nicht der Untergang. Noch genauer: das Untergehen, nicht das Untergegangensein.

326
Geist ist der Sohn des Elends und der Kraft.

327
Ist der Mann, mit dem du zu tun hast, ein Schuft und du merkst es nicht, dann bist du übel dran, aber noch viel übler, wenn du ihn merken läßt, daß du's gemerkt hast.

328
Die einzige Möglichkeit, mit einem gemeinen Menschen fertig zu werden, ist: sich von ihm für einen ahnungslosen Engel halten zu lassen.

329
Zum Thema des Märtyrers ist in neuerer Zeit nicht genug gedacht, nicht genug geschrieben worden. Ich habe ein starkes Mißtrauen gegen die Glorifizierung von Märtyrern; sie ist oft die andere, die sichtbare Seite einer heimlichen Genugtuung Minderer über das Mißgeschick der Hervorragenden. Hinzukommt, daß für die Güte einer Sache keineswegs die Qual spricht, die um ihretwillen ihr Verfechter auf sich genommen hat; man kann für eine objektiv schlechte Sache leiden, und eine objektiv gute wird nicht durch den Umstand schlechter, daß einer für sie nicht gelitten hat. Die Richtigkeit der metaphysischen und moralischen Inhalte des Christentums wird nicht etwa durch Jesu Kreuzestod bewiesen und der Inhalt des Buddhismus nicht dadurch widerlegt, daß Gautama ohne Kreuz, ohne Giftbecher, ohne Verfolgungen und Kerker friedvoll-natürlich gestorben ist. Ich glaube, daß Oscar Wilde ein großer Künstler war; aber er war es nicht deshalb, weil er, empörenderweise, ohne echte Schuld mehrere Jahre im Zuchthaus schmachtete; und Stefan George ist bestimmt nicht deshalb gering, weil ihm dies Schicksal erspart blieb. Wollen wir uns ein Urteil über Bedeutung und Format eines Königs, der ermordet wurde, eines Staatsmanns, der ermordet wurde, eines Revolutionärs, der ermordet wurde, bilden, so müssen wir eines ganz außer Betracht lassen: das Faktum Mord. Idealisierung des Mannes nur wegen der Tragik seines Lebensausgangs wäre lachhaft sentimental und ekelhaft unsachlich. Ob ein Künstler, ein Denker, ein Politiker groß, ob er gering ist, das entscheidet sich nach seinen Werken, seinem Weltbild, seinem Stil, seinen Lehrmeinungen, seinen Tendenzen, seinem Wollen und Können, seinen Taten - immer nach der Leistung, nie nach dem Schicksal. So wenig der Erfolg ein Maßstab des Wertes ist, so wenig ist es der Mißerfolg, selbst nicht der monumentale, tragische, tödliche. (Februar 1935.)

330
Dogmatiker untereinander, so entgegengesetzt ihre Dogmen sein mögen, tolerieren sich eher als jeder von ihnen den Skeptiker.

331
Eine ungeheuerliche Anmaßung, von Gott zu behaupten, er sei. Gesetzt, er wäre -: woher wüßte der Mensch es? Aber eine klägliche Dummheit, von Gott zu behaupten, er sei nicht. Solche Behauptung enthielte die Versicherung: "Ich kenne den Ursprung, begreife den Sinn, weiß um das Ende der Welt", und diese Versicherung ist lächerlich.

332
Theologie heißt die Wissenschaft von einem Gegenstand, über den sie nichts weiß.

333
Je älter man wird, desto dümmer kommt man sich vor, nicht zwar im Punkte der Lebenserfahrung, umsomehr aber in dem der Welterkenntnis. "Weltgefühl" - es sprießt so oft wie in der Jugend, vielleicht sogar öfter noch, aber stets ist es (und das war in der Jugend anders) das Gefühl von der absoluten Undurchdringlichkeit des Dunkels allen Daseins.

334
Der bedeutendste Staatsmann unserer Epoche: Jawaharlal Nehru, schreibt in seinem Buche 'Die Entdeckung Indiens' (englisch 1946): "Ich bin an dieser Welt interessiert, an diesem Leben, nicht an irgendeiner andern Welt oder einem künftigen Leben." Unter Deutschen sprachen denselben Gedanken auf andere Art, doch ebenso direkt Heine und Nietzsche aus. Theologen-Unbescheidenheit, die vom Weltgeheimnis etwas zu wissen behauptet, sollte an Kundgebungen derart genialer Demut vor dem Rätsel zumindest nicht feige-schweigend noch entrüstungs-aufgeblasen oder gar mit geheucheltem Spott vorübergehn.

335
An den Ketzerverbrennungen ärgert mich weniger, daß, als wer verbrannt wurde.

336
Ich hasse die Ratte tiefer als den Tiger, die Wanze heftiger als den Haifisch, den frommen oder liberalen Hitlerermächtiger von 1933 heißer als den Massenmörder A. H.

337
Von einem skeptischen Standpunkt oberhalb der Moralen aus, der sich freilich Konsequenz zur Norm setzt, sind alternativ nur zwei Verhaltensweisen sinnvoll: Geld machen oder Geist tun. Der Spießbürger vermag weder dies noch jenes. Rockefeller und Goethe sind einander verwandter (trotz des Abgrunds zwischen ihnen) als jeder von beiden Herrn Piefke. Wer aber Goethe für einen Bourgeois hält und mir daher aus falschem Grunde hier rechtgibt, den bitte ich "Goethe" in dem Satz durch Buddha oder Johannes den Täufer zu ersetzen, durch Savonarola oder Karl Liebknecht, damit ich in die erwünschte Lage komme, den Zorn solchen Lesers zu erregen. Ich schreibe meine Bücher ohnehin nicht für die Leser, sondern gegen sie (ein paar Ausnahmen zugestanden).

338
Ein Philosoph - was ist das? Die Aufgabe, den Philosophen zu definieren, ist schwer; meist von Nichtphilosophen gestellt, setzt ihre Lösung einen Philosophen voraus. Gerade er aber weiß, daß der Begriff der Philosophie, seit Sokrates ihn schuf, umstritten ist und ihn zu bestimmen eines ihrer eminentesten und heikelsten Probleme bildet.


339
Echte Probleme sind unlösbar. Wer das nicht begreift, ist kein Philosoph. Wer sich dabei beruhigt, ist erst recht keiner.

340
Die Wissenschaften, voneinander durch ihren Gegenstand unterschieden, unterscheiden sich insgesamt unterschiedslos von der Philosophie durch die Lebensdauer ihrer Fragen. Die Fragen der Wissenschaft leben, bis sie beantwortet sind; die Fragen der Philosophie leben ewig.

341
Die Wissenschaften sind Gehilfinnen, ohne die Frau Philosophie kaum wirtschaften kann; sie zieht, das ist klar, die exakten vor.

342
Ein Philosoph, der die Philosophie als eine Wissenschaft deklariert, kommt mir wie ein Generaldirektor vor, der sich als seinen eignen Prokuristen ausgibt, oder wie ein Feldmarschall mit der cisvestitischen Neigung, in der Uniform eines Feldwebels spazierenzugehn. Man möchte sagen: Kleinheitswahn! Und doch liegt jener Deklarierung und Selbstdegradation die größenwahnsinnige Vorstellung zugrunde, der Philosophie müsse gelingen, was den Wissenschaften gelingt: ihre Probleme zu lösen; auf ihre Fragen Antworten zu erteilen, die objektiv richtig, nachweisbar richtig, allgemeingültig, unanfechtbar sind.

343
Ich sagte einem Moralphilosophen, dessen streng anti"bequeme" Lehre ihm selber mit Selbstverständlichkeit als "objektive" "Wissenschaft", "ähnlich der Mathematik", galt: Mein Lieber, mit meinem Zweifel lebt sichs lange nicht so bequem wie mit deinem Glauben!

344
Soviel Ursache ich habe, den Philosophen Demokritos zu lieben, welcher vor vierundzwanzig Jahrhunderten ein zwar demokratischer, aber auch demo-kritischer Denker war und mithin seinem Namen Ehre machte, so sehr muß ich ihm doch widersprechen, wenn er die Äußerung wirklich getan hat, die man ihm zuschreibt: "Ich möchte lieber einen einzigen ursächlichen Zusammenhang entdecken, als König der Perser werden." Nein, da bocke ich und gestehe, daß ich meinerseits, und sei es für ein einziges Jahr, lieber die Geschicke eines selbst weit kleineren Volks als der Perser wirksam mitbestimmen möchte als ein ganzes Leben lang ungestört Kausalbetrachtungen anstellen. Zugegeben, Genosse Demokrit, daß in Ihrem vornaturwissenschaftlichen Zeitalter, wo die Naturphilosophen ungefähr so zurück waren wie in meinem nur noch die Sozialphilosophen, der Hunger nach verbürgten Kausalzusammenhängen heftiger und etwas Geistigeres gewesen ist, als er heute sein kann; dennoch bleibt uns ja auch heute, bei allen Triumphen exakter Wissenschaft, die Endursache im Dunkel (wie gerade Sie schon damals wußten) - im Dunkel, weil wir nicht aufgehört haben, Menschen zu sein; während die politische Aufgabe nachgerade lösbar, den Gemeinschaften ein wenig Vernunft und Glück bei redlicher Anstrengung durchaus beibringbar wäre. Oder?

345
Leider ist man kein Herakles und demnach gegen die Hydra machtlos. Nur dazu bleibt man in der Lage: sie unbedingt nie zu streicheln.

346
Für das Auge des Gelehrten hat der Gedanken-Gang des Denkers etwas Hüpfendes, für das Auge des Denkers der des Gelehrten etwas Kriechendes.

347
Die Realisten in der Malerei (von Frans Hals bis Liebermann) haben gleichsam eine Dimension zu wenig: die vierte. Die Surrealisten beschränken sich auf die vierte und geben vor, es sei Malerei.

348
Nicht alle Maler sind Pinsel, nicht alle Schriftsteller Schreib-Maschinen.

349
Freundschaft mit Schriftstellern hat manchen Reiz, aber den ungeheuren Nachteil, daß man sich gezwungen findet, ihre Bücher zu lesen.

350
Als die schärfste Antithese innerhalb der intellektuellen Schicht der Gesellschaft erscheint mir nicht der Gegensatz zwischen irgendwelchen Doktrinen, Ideologien, Systemen, Stilen, Ismen, sondern der Kontrast zwischen unabhängigen Geistern und angestellten. Der bedeutende Kopf, der mittelmäßige Kopf - scharfe Spannung. Der unabhängige Kopf, der angestellte - eine noch viel schärfere! Da nun ein unabhängiger Kopf durchaus mittelmäßig sein kann und ein bedeutender leider angestellt, so ist die Diagnose in jedem Einzelfall höchst verwickelt.

351
Es gibt immer noch Leute, die sich weigern, zwischen Zivilisation und Kultur zu unterscheiden; diesen Unterschied zu machen, sei Wichtigtuerei von Mystikern oder Spitzfindigkeit von Haarspaltern. In Wahrheit wird der Abgrund, jawohl: Abgrund, zwischen beiden Begriffen schauderhaft sichtbar in der Anekdote von jenem Missionar, der in der Südsee zwanzig Jahre unter Menschenfressern lebte und während dieser Zeit zwar mitnichten erreichte, daß auch nur ein einziger von ihnen die furchtbare Gewohnheit aufgab, wohl aber, daß sie sämtlich mit Messer und Gabel aßen. Begreifen die Anti-Haarspalter, daß dieser Missionar seine Wilden zwar der Zivilisation um einen Schritt, aber der Kultur um keinen näher gebracht hat?

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Wir wollen niemand von seinen Lastern entlasten, indem wir sie auf "Dämonen" schieben. Dämonen bleiben ein alberner Aberglaube verklungener Zeiten. Nichtmal zur Metapher eignen sie sich. Denn eine Metapher zieht die andre nach sich; die Dämonen den Scheiterhaufen; und ist der Scheiterhaufen erst einmal metaphorisch da, dann läßt er auch real nicht lange mehr auf sich warten. Wer aber soll ihn besteigen - nach dem Wunsche der "Dämonen"-Affen in unserer Publizistik heute? Sie selbst, gemäß ihrem schlechten Gewissen? O nein; wir!

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Wenn die Deutschen kollektiv einen Irrsinn begangen haben (etwa die Erwählung ihres ungebildetsten Wachtmeisters zum Reichspräsidenten oder die Ermächtigung ihres ruchlosesten Verbrechers zu ... was-immer-ihm-Spaß-macht), einen glatten, runden Irrsinn, an den Warnungen und dem Widerspruch ihrer eignen Minderheit höhnisch vorbei, und die Umwelt renkt diese Nation einigermaßen unsanft wieder in den Vernunftzustand, dann glauben die aus dem Wahne Erwachenden, die ganze Menschheit sei von Dämonen besessen gewesen. Sie deuten ihre eigne Krise als Krise der Welt; und tun dies übrigens nicht ohne gewissen Stolz auf die metaphysische Ehre, die ihnen zuteil ward, am rabiatesten von der Krise gerüttelt worden zu sein. Wer diesen Stolz nicht teile, sei ein platter Rationalist, der nie lernen werde, wo Gott wohnt. - Es ist, wie wenn in einer Irrenanstalt, nach leidlich geglücktem shock treatment, der Exverrückte zwar zutreffendermaßen sich selber, zugleich aber auch (und eigentlich in erster Linie) den Stab der Ärzte und Pfleger für eben genesende Psychotiker hält.

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Soweit sie den deutschen Jammer nicht den Dämonen in die Schuhe schieben, führen sie ihn auf das Verhältniswahlrecht zurück.

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Eher noch ist der Durchschnittsdeutsche bereit, in mystischer Zerknirschungs-Verklärung seine Nation "als Ganzheit" für eine Verbrecherin zu halten, als ekstaselos diejenigen seiner Landsleute für individuelle Verbrecher, die es wirklich waren oder sind.

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Der Auswurf, der Hitler emportrug, schiebt die Schuld an den Folgen auf die demokratischen Großmächte, weil sie nicht schlagfertig genug waren, die Machenschaften des Auswurfs mit dem Präventivkrieg gegen den Auswurf zu beantworten.

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Nachdem Tollheit die Nation in den Abgrund kutschiert hat, sollte man meinen, daß die Vernunft hoch im Kurse stünde. Das Gegenteil ist der Fall. Dafür, daß man auf Kant nicht hörte, straft man ihn mit Verachtung. Selbst in der Presse der Freiheit sind Schmähungen und Hohn auf die Vernunft an der Tagesordnung, der Obskurantismus schickt seine fünfte Kolonne unter den Strich, und alles treibt sachte einer neu-mittelalterlichen, illuministischen Diktatur zu. Die völkisch-illuministische, gestern, ist vergessen. Das gebrannte Kind schreit nach dem Feuer.

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Ein halbes Jahrhundert lang von aller Vernunft verlassen, hat der Bildungsdeutsche sie dafür zur Rechenschaft gezogen und sich endgiltig dem Irrationalismus verschrieben.

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Irrationalismus: das Unterfangen, Denkdinge mittels andrer seelischer Funktionen bemeistern zu wollen als mittels der Vernunft; eine der Vernunft ausgesprochen feindliche Bewußtseinshaltung. Rationalismus: das Selbstbewußtsein der Vernunft; eine positive Bewertung außervernünftiger, nämlich außerdenkerischer Dinge (Hauptbeispiel: Liebe) keineswegs etwa ausschließend! Während der Irrationalismus die ratio aus dem Gebiete ihrer Zuständigkeit stichelnd zu verdrängen sucht, ehrt der Rationalismus die Gefühle auf dem Gebiete ihrer Zuständigkeit. Der Rationalismus hat mithin gegenüber dem Irrationalismus nicht nur recht, sondern er ist auch weniger unverschämt. Er verteidigt sein Gebiet; während der Irrationalismus fremdes Gebiet imperialistisch zu invadieren sucht. (Hierzu paßt vorzüglich, jenseits der Metapher, daß der aggressive Imperialismus nicht etwa in der Vernunft wurzelt, sondern in den Trieben, im "Es", im Irrationalen.)

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Das einzige, wodurch der Mensch sich vom Tier unterscheiden könnte, wenn er wollte, wäre: die Vernunft.

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Sie entdecken den Balken im eignen Sehorgan nicht und diagnostizieren den Glanz im fremden Auge als Splitter.

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Die Symphonie der Gedanken großer Geister zeigt Scheinwidersprüche, und nichts tun kritische Pygmäen lieber, als sie ihnen anzukreuzen. Dagegen die ganz ordinäre Widersprüchlichkeit im Opus unsrer verantwortungs- und witzlosen Kleingeister mit hochgezogener Braue wird als dialektische Fülle oder existentielle Tiefe gerühmt.

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Mit der naiven Dummheit könnten wir fertig werden; mit der unnaiv, verlogen und boshaft die Vernunft herabsetzenden Scheinphilosophie, ihrer kriterienlosen Aalschlüpfrigkeit, ihrer hochstaplerischen Reklame für mythisch - magisch - mystische Denkfühlerei kämpfen Götter selbst vergebens.

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Übrigens ist unter den Gattungen philosophischer Hochstapelei jene, die sich bemüht, die Vernunft verächtlich zu machen, nur die zweitärgste. Die ärgste ist die, deren fauler Tiefsinn uns weismachen möchte, die Vernunft herrsche bereits, sie sei das der Welt immanente Prinzip, sie komme in jedwedem vorgefundenen Staat nicht minder zum Ausdruck als in den Bahnen der Gestirne, und unsre einzige Aufgabe sei, ihrer gewahr zu werden, gerade in den zufälligen und überlebten Organisaten fragwürdiger menschlicher Macht. Den vorgefundenen Staat nicht kritisieren, ihn nicht ändern und umformen wollen, nein, ihn als Ausdruck der Weltvernunft begreifen lernen, um sich mit ihm zu "versöhnen", mag er beschaffen sein wie -auch-immer, - das lehrte Hegel und das impliziert auch die mit einem fashionablen Ismus beklebte moderne Hegelei. Wir dürfen Hegel definieren: Hegel oder die Deutung des Massenmords an Kindern als Ausdruck der Weltvernunft.

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Verbindet sich der Mangel an Scharfsinn mit der Unfähigkeit, sich auszudrücken, mit der ostentativen Gleichgültigkeit gegenüber gewissen gesicherten Errungenschaften der Philosophie, mit eisiger Kälte vor den ewigen Forderungen der Gerechtigkeit, mit der bösen Lust, so oft es geht, vorwärtsschreitender gesellschaftlicher Vernunft ein Bein zu stellen, und mit dem Willen, trotz alledem zu imponieren, so ist in Deutschland von "Existentialismus" die Rede. Das "existentielle" "Anliegen" hat weder mit Kierkegaard noch mit Sartre auch nur das geringste zu tun! Unser deutscher "Existentialismus" ist Hegel-Aufguß, während es einen schärferen Verwerfer der Hegelei als Kierkegaard nicht gab - wie schon aus einem einzigen seiner Sätze hervorgeht (welcher aus 1844, dem Geburtsjahre Nietzsches, stammt): "Alles Reden von einer höheren Einheit, die absolute Gegensätze vereinigen soll, ist ein metaphysisches Attentat auf die Ethik." Genau dies Attentat ist der deutsche "Existentialismus", in seinen beiden Ausfertigungen, besonders der frommen. Sartre, woran es nichts zu deuteln gibt, ist aktivistisch und a-theistisch.

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Die einzige Litteratur, die als unzüchtig verboten werden sollte, ist die, die versucht, das Vertrauen der Vernunft zu sich selbst zu erschüttern. Leider nur können wir solch ein Verbot einem Staate nicht vorschlagen, dessen Verfassung, indem sie die Mehrheit als unumschränkten Zaren einsetzt, den Aufstieg der Vernunftwidersacher zur Macht nicht nur nicht verhütet oder seine Wahrscheinlichkeit auch nur senkt, sondern ihn geradezu begünstigt. Die Gefahr, daß solch Verbot nur zu bald von Leuten, die sein Grund waren, aufs boshafteste gegen Tendenzen praktiziert würde, deren Förderung sein Sinn ist, übersteigt die pädagogischen Vorteile, die man sich für den Anfang von ihm versprechen könnte.

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"Weltvernunft" ist die Ausrede der Konsolidierten und Konservativen, die den Menschen andern Schicksals und andern Schlags hindern möchten, seine Vernunft zu gebrauchen und durchzusetzen. Das Gestammel und Gestottere vom "Nichts" der Welt läuft auf den nämlichen Unfug hinaus. Aber auch "Weltanschauung" ist eine trübe Angelegenheit. Auf die Gefahr hin, mit klerikalen Eiferern verwechselt zu werden, die aus ungleichem Grunde das Gleiche sagen (im Omnibus der Negation sieht man sich oft neben peinlichen Fahrtgenossen), bekenne ich: Ich würde die Welt leidenschaftlich gern anschauen; es geht nur leider nicht! Anschauen kann man Teilchen der Welt, nicht die Welt. Um die Welt anschauen zu können, müßte man, mindestens für kurze Zeit, außerhalb ihrer stehn. Mag also sein, daß Tote in die Lage kommen, die Welt anzuschauen; Lebendige nicht. Was Lebendige können, ist: die Welt wollen, und: durch die Freiheit ihres Willens sie ändern, nach Prinzipien der Vernunft; ganz gewiß nur den Teil der Welt, für den der Mensch zuständig ist. Seit den ältesten Zeiten reden die Verdummer uns ein, daß es solchen Teil. des Seins nicht gebe. Zerschmettern wir endlich ihre Macht!